Wer so unstet reist wie wir, braucht ab und zu mal Urlaub vom Urlaub. Gerade an solchen „Gammeltagen“ ergeben sich oft die interessantesten Begegnungen und Detaileinblicke in das Leben der Menschen an anderen Orten.
Heute haben wir einen Gammeltag eingelegt. Wir haben bis acht geschlafen, erst um zehn gefrühstückt. Es regnete ohnehin, und obwohl sich in der Gegend wohl noch ein paar Sehenswürdigkeiten finden würden, zog uns nichts so stark an wie die Kinder ihre mitgeführten Duplosteine.
Während wir also im Aufenthaltsraum herumhingen, den Jungs beim Spielen zusahen und uns freuten, dass uns keinerlei Verpflichtungen im Nacken saßen, gesellten sich der sehr nette Rumäne und seine kleine Tochter zu uns. Die Kleine ist knapp zwei und heißt Annika*, aber über den Vorstellungspunkt unter uns Erwachsenen sind wir irgendwie völlig drüber weggekommen. Umso erstaunlicher, dass ich zwar nicht seinen Namen, inzwischen aber einen Großteil seiner durchaus tragischen Lebensgeschichte kenne. Aber so ist es ja manchmal, und bei Reisebekanntschaften sogar oft, glaube ich. Man begegnet sich, ist sich sympathisch, verbringt etwas Zeit miteinander und gibt in dem Bewusstsein, dass man sich wahrscheinlich niemals wieder sieht, bereitwillig mehr preis, als man das bei Bekanntschaften zu Hause tun würde. Wobei das Haugly für Annikas Papa fast schon so etwas wie ein zweites Zuhause geworden ist. Drei Wochenenden pro Monat kommt er hierher, um seine Tochter zu sehen. Die Woche über arbeitet er in Oslo im Straßenbau. Zu Hause in Rumänien war er Lehrer. Seine Mutter, die ihn alleine großgezogen hatte, war sehr stolz auf ihn, dass etwas aus ihm geworden war. Das Lehrer-Gehalt ist anscheinend nicht so rosig in Rumänien, und so verbrachte er die Sommerferien damit, zusätzlich in einem Hotel zu jobben.
Dort lernte er Annikas Mutter kennen, eine junge Norwegerin. Er erwartete nicht viel von diesem Urlaubsflirt. Man tauschte zwar Kontaktdaten aus, aber er wunderte sich nicht, dass auf seine E-Mails sehr bald nichts mehr zurückkam. Etwas später schrieb dann die Freundin des Mädchens, die auch in Rumänien gewesen war, sie finde, er solle wissen, dass er Vater werde. Das fand er auch, und er setzte alles daran, mit der Mutter seines Kindes wieder in Kontakt zu kommen. Die fand den „Verrat“ der Freundin gar nicht witzig. Natürlich weiß ich nicht, was da im einzelnen gelaufen ist, und ich kenne nur seine Perspektive. Seiner Schilderung nach war die Schwangerschaft von ihr jedenfalls kaltblütig geplant. Offenbar kümmert sich das norwegische Sozialsystem gut um alleinerziehende Mütter, deren Kindsväter sich im Ausland befinden und nicht ermittelt werden können. „Arbeiten, selbst Geld verdienen und ihr Gehirn benutzen, das ist alles nicht ihr Ding“, erklärte der Rumäne knapp. Dass er so sauer auf sie war, finde ich verständlich. Annikas Mutter wollte absolut nicht, dass der Vater eine Rolle im Leben ihrer Tochter spielt. Sie verweigerte jede Art von Treffen, behauptete, er sei nicht der Vater. Er veranlasste einen Vaterschaftstest und erstritt in einem langwierigen Prozess das Umgangsrecht. Um seine Tochter regelmäßig sehen zu können, gab er seinen Job in der Heimat auf, zog nach Oslo und nahm die nächstbeste Arbeit an. Zuerst wohnten Annika und ihre Mutter auch in der Hauptstadt, aber um es ihm so schwer wie möglich zu machen, zog sie in das abgelegene Setesdal. Sie hat versucht, ihm das Umgangsrecht ganz zu verweigern, aber er hat nicht locker gelassen. Er ist ja selbst ohne Vater aufgewachsen, hat darunter gelitten und wollte es besser machen. Inzwischen gibt sie das Mädchen heraus, ohne dass ein Mitarbeiter des Sozialwesens sie nachdrücklich dazu auffordern muss. Aber sie redet nicht mit ihm, kein Wort.
Natürlich bin ich erst einmal skeptisch, wenn ich solche Geschichten höre. Es gehören ja immer zwei zu problematischen Sorgerechtsfällen. Was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass er sich wirklich süß um die Kleine kümmert und einer der aufmerksamsten, fürsorglichsten jungen Väter ist, denen ich begegnet bin. Ich wünsche den beiden jedenfalls alles erdenklich Gute und hoffe inständig, dass sie es trotz der mehr als widrigen Umstände schaffen, eine gute Vater-Tochter-Beziehung zu führen.
Na ja, zurück zu uns. Sobald es aufhört zu regnen, wollen wir noch mal eine Runde raus. Einfach ein bisschen durch den norwegischen Wald spazieren. Ansonsten bleiben wir faul hier im Hostel. So ein Relax-Tag zwischendurch tut uns allen gut.
*So heißt sie nicht. Aber da ich weder sie noch ihren Papa fragen kann, ob es ihnen Recht ist, ihre Geschichte zu erzählen, ändere ich die Parameter so, dass die Bedeutung dieselbe bleibt, die Familie aber nicht identifizierbar wird.
Diesen Eintrag meines Reisetagebuchs habe ich am 30. August 2009 verfasst.
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