Lecce ist mit 93.000 Einwohnern Provinzhauptstadt und eine der größten Siedlungen auf dem italienischen Stiefelabsatz. Ein Bummel durch die Altstadt lohnt sich vor allem wegen der unzähligen Kirchen und anderen Gebäude, die mit Ornamenten aus dem lokalen Tuffstein verziert sind. Diese sind so berühmt geworden, dass eine ganze Stilrichtung nach der Stadt benannt ist: der Lecceser Barock. Oder Lecceser Rokoko. Da ist man sich nicht ganz einig…
Dieser Artikel beschreibt unsere Erfahrungen beim Ausflug nach Lecce als Familie. Wir haben im März 2015 auf unserer 11-monatigen Europareise einen Tag in der Stadt verbracht. Mit dabei waren unsere beiden Kinder Janis (10) und Silas (8).
Kunstgeschichte für Anfänger: Was war noch mal Barock?
Bevor wir zu den touristisch interessanten Punkten kommen, ist bei diesem Stichwort wohl etwas Nachhilfe in Kunstgeschichte angesagt. Ich meine, mal ernsthaft: Könnt ihr mir aus dem Stegreif erklären, wo der Unterschied zwischen Barock und Rokoko liegt? Wann die beiden zeitlich auftraten? Und wo genau Süditalien dabei ins Spiel kommt? Ich kann das nicht. Aber es interessiert mich doch. Deshalb schlag ich es nach und geb die Infos an euch weiter.
Barock also ist die Epoche der Kunstgeschichte, die am Ende des 16. Jahrhunderts auf die Renaissance folgte. Etwa 200 Jahre lang prägte sie den Geschmack der Menschen bezüglich Architektur, Malerei und bildender Kunst. Opulenz war dabei das Zauberwort. Üppigkeit auf jede Weise. Prunk und Pracht (und Protz).
Der Begriff bezeichnete ursprünglich im Portugiesischen unregelmäßig geformte Perlen. Er lässt sich sogar auf die allgemeine Geisteshaltung des absolutistischen Zeitalters ausdehnen. Aber so weit brauchen wir hier gar nicht gehen. Ein ungefähres Bild vom Versailler Schloss Ludwigs XIV. vor Augen zu haben, reicht völlig aus, um dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
Fette Engel und so, ergänzt der Kunstbanause in mir.
Und was ist Rokoko?
Das Rokoko nun ist mehr oder weniger die Spätphase des Barock. Oder möglicherweise doch eine eigenständige Epoche der Kunstgeschichte Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts, bevor der Klassizismus Fuß fasst. Die überbordenden Ornamente sind weiterhin dabei. Aber sie werden verspielter, thematisch bescheidener, naturverbundener. Entscheidend ist wohl, dass sie sich gerne auch mal asymmetrisch zeigen.
Während im Spätbarock andernorts ovale Grundrisse en vogue waren, baute man im Salent Kirchen weiterhin nach griechisch-byzantinischer Tradition quadratisch. Das allein macht freilich noch keine eigene Stilrichtung. Es war wohl vor allem die schiere Produktivität, mit der die örtlichen Kunsthandwerker den nationalen Markt überschwemmten. Der weiche Tuffstein ließ sich prima bearbeiten. So war es vergleichsweise unproblematisch und kostengünstig, an wirklich jeder Ecke und jeder Fassade detailreiche Ornamente unterzubringen.
Lecceser Barock im Stadtbild
Und so gibt es auch heute noch überall etwas zu Gucken. Hier ein Palazzo mit überbordend geschmücktem Portal. Dort ein Fresco an einer Hauswand. Da drüben ein reich verzierter Brunnen. Vor allem aber sind es die Kirchen, die über und über mit steinernen Ornamenten geschmückt sind. – Und deren gibt es wirklich reichlich in Lecce.
Die Basilika Santa Croce schießt den Vogel ab. Im Moment wird sie restauriert und wirkt in der Gesamtansicht nicht eben fotogen. Aber wir staunen doch über die fantasievolle Fassadengestaltung, in der auch ein Drache, ein Hund, mehrere Vögel, ein Pferd-Fisch-Fabelwesen und Herkules auftreten. Wir spielen „Ich sehe was, was du nicht siehst“ mit einzelnen Motiven. Eigentlich könnten wir uns damit den ganzen Tag beschäftigen.
Eine Sache lässt sich aber nicht unter den Tisch kehren. So wunderbar einfach sich der cremefarbene Tuffstein aus den Steinbrüchen von Lecce bearbeiten lässt, so wenig Positives lässt sich über seine Haltbarkeit sagen. Für die Ewigkeit ist das weiche Ergussgestein jedenfalls nicht gemacht. Spätestens seit der Erfindung des Sauren Regens schmelzen die Ornamente geradezu vor sich hin. Manche sehen aus wie ausgespuckte Kaugummis.
Das tut unserer Faszination freilich keinen Abbruch. Die Jungs finden begeistert immer neue Zeugen des dramatischen Verfalls. Sie stellen Vermutungen an, wieso gerade diese Statue oder dieses Stück des Fensterrahmens besonders gelitten hat. Und wir gönnen uns ein, zwei Minuten lokalpatriotischer Überheblichkeit: Mit Obernkirchener Sandstein wäre das nicht passiert. Pah Lecceser Barock – es lebe die Weserrenaissance!
Lecce kann auch Antike – und Eis
Was weder Obernkirchen noch Norddeutschland im Allgemeinen zu bieten haben, sind hingegen die antiken Baudenkmäler aus der römischen Zeit. Da ist das Amphitheater, das Mussolini – wie in Triest – freilegen ließ, obwohl schützenswerte Gebäude aus späterer Epoche drauf standen: um die großmächtigen Parallelen zum Römischen Reich zu betonen. Es gibt noch mehr antike Ruinen, die über all die kleinen Plätze in der Altstadt verteilt sind.
Wir lassen uns allerdings ablenken von all den herrlichen Kirchenfassaden. Und vom Eis. Das im Cin Cin Café kostet zwar 2 Euro pro Becher. Aber der Becher entspricht auch zwei Kugeln in Deutschland. Und es schmeckt einfach himmlisch!
Kein Glück haben wir im Archäologischen Museum. Ein Aushang von vorletzter Woche informiert uns, dass die Institution wegen eines Trauerfalls vorübergehend geschlossen bleibt. (Das ist zumindest das, was ich dem Text mit meinen bröckeligen Italienischkenntnissen entnehme, die sich zu fast 100 Prozent auf mein Schul-Latein beschränken.) Auch sonst sieht das Museum reichlich heruntergekommen aus.
Nach zwei Stunden haben wir das Gefühl, dass wir jetzt durch sind mit Lecce. Außerdem regnet es schon wieder. Und so fahren wir in unsere kalte, ungemütliche Ferienwohnung zurück. Bei gutem Wetter und mit etwas mehr kunstgeschichtlicher Grundbildung macht ein Ausflug nach Lecce sicherlich noch viel mehr Spaß!
Mehr Ausflugsziele in Apulien
Eine Woche lang haben wir in Apulien verbracht, ganz im Süden Italiens. Fünf Ausflüge haben wir dort unternommen, über die ich hier in meinem Reiseblog berichte. Dies sind die anderen vier:
- Naturschutzgebiet Porto Selvaggio: Wo jeder Fossilien findet, ohne sie suchen zu müssen
- Otranto: Wo Adam kein Feigenblatt trägt – und wie die Stadt zu 800 Heiligen auf einmal kam
- Gallipoli: Wo buchstäblich eine Kirche neben der anderen steht – und vom schönsten Strand unserer Reise
- Taranto: Die angeblich dreckigste Stadt Italiens – und was man sich trotzdem unbedingt ansehen sollte
Gewöhnt an das gigantische China staune ich immer, wenn ich lese, dass eine Provinzhauptstadt „nur“ 93.000 Einwohner hat. Du machst mir richtig Lust auf Italien.
Also was ich da jetzt alles noch erfahren habe :-) Manchmal sollte ich auch mehr geschichtliches Zeugs lesen ;-)
Aber wir waren auch sehr beeindruckt von den vielen Fresken und Figuren. Nach außen hin wirken die Verzierungen ja echt kitschig, aber im Detail sind sie schon sehr schön! Schade, dass ihr einen Regentag erwischt habt – das ist ja wirklich unlustig bei Stadtbesichtigungen.
Lg Barbara
Aber immer noch besser als eure Affenhitze! :) Solange es nicht richtig pladdert, habe ich gegen einen grauen Tag zur Stadtbesichtigung gar nicht so viel einzuwenden. (Na ja, die Fotos werden bei blauem Himmel natürlich schöner.)
[…] für Museen. Warum sich also nicht in die Gespräche einschalten? Oder was hältst du von „Lecce: Family4Travel goes Kunstgeschichte – oder die Stadt der angebissenen Statuen“ via @family4travel – ein herrlicher […]