Heute wird es märchenhaft bei family4travel. Und das Beste daran: Diese irre Geschichte ist tatsächlich wahr! Es geht um die große Liebe, schlimmes Unglück und Magie, und darum, wie die kleine Stadt Sciacca zu seiner Sehenswürdigkeit mit den Tausenden von steinernen Skulpturen kam.
Vom armen Filippo, der König werden wollte
Es war einmal ein junger Mann, der Filippo hieß. Er lebte in einem kleinen Städtchen auf Sizilien, das Sciacca hieß. Er war arm, denn seine Familie war arm. Sein Vater war ein Fischer, und der hatte viele Kinder, die er ernähren musste. Es war die Zeit, in der anderswo in der Welt große Veränderungen vor sich gingen, wo Eisenbahnlinien und Hochhäuser gebaut wurden und elektrischer Strom in die Häuser kam. Grammophone und Telefone und Kühlschränke und lauter wunderliche Dinge kamen auf und spielten mehr und mehr eine Rolle im Leben der Menschen. Auf Sizilien allerdings passierte nichts dergleichen, zumindest nicht in der kleinen Stadt namens Sciacca. Hier lebten die Leute wie ihre Vorfahren, die meisten waren Fischer und arm.
Filippo wollte nicht so leben wie sein Vater. Er träumte von der schönen neuen Welt mit all den schönen neuen Dingen. Außerdem gab es auch schon mehr als genug Fischer in der kleinen Stadt. Das Boot des Vaters erbte sein ältester Bruder, und für Filippo blieb wenig übrig. Und so packte er, als er 20 Jahre alt war, seine wenigen Habseligkeiten zusammen, bestieg ein großes Schiff und fuhr damit nach Amerika (das war damals, als es noch leichter war, ein Visum zu bekommen). Dort wollte er sein Glück machen, und wenn er sehr reich geworden wäre, so erzählte er jedem, dann würde er zurückkommen nach Sizilien und hier wie ein König leben. Filippo sagte schon damals manchmal merkwürdige Sachen. „Er hat halt große Träume“, sagte seine Mutter, und wünschte ihm Glück.
Filippo in Amerika
Filippo fuhr also nach Amerika. In New York ging er an Land und verbrachte zunächst eine ganze Zeit damit, zu staunen. Die elektrische Straßenbeleuchtung faszinierte ihn, die Wolkenkratzer verschlugen ihm die Sprache.
Dann besann er sich darauf, dass er reich werden wollte, und suchte sich eine Arbeit. Natürlich lag auch damals in Amerika das Geld nicht auf der Straße. Er musste hart schuften. Filippo ging nach Chicago, wo es zu dieser Zeit gewisse sizilianische Arbeitgeber gab, für die man nicht so schwer körperlich arbeiten musste. Letztlich verdingte er sich aber doch beim Eisenbahnbau und half mit, den langen Schienenstrang Richtung Westen zu errichten.
Wie es bei jungen Männern üblich ist, verliebte sich Filippo nach einiger Zeit. Das Mädchen war wunderschön und zart und sanftmütig, und Filippo hätte alles für sie getan. Er arbeitete noch härter und sparte das Geld, um ihr ein Heim zu geben, um ihren eigenen kleinen Palast zu errichten. Eine Weile sah es so aus, als würde alles ein gutes Ende nehmen, als würde sich dieselbe Geschichte wiederholen, die sich dort drüben schon unzählige Male ereignet hatte: Zwei Menschen verließen ihr Heimatland, fanden sich in Amerika, heirateten und zeugten viele neue Amerikaner.
Das große Unglück des Filippo
Aber so war es nicht bei Filippo. Das wunderschöne, zarte, sanftmütige Mädchen verliebte sich bald in jemand anderen. Der andere war reicher, und er war stärker. Filippo war bloß wütender. Bei der erstbesten Gelegenheit stürzte er sich auf den Rivalen, der ihm sein Mädchen gestohlen hatte. Das klingt aus unserer heutigen Sicht schrecklich sexistisch, und so ist es wahrscheinlich auch gewesen. Wer, wenn nicht ein Italiener in den 1920er Jahren, sollte ein derart machohaftes Benehmen an den Tag legen? Die Sache ist die: Die Strafe folgte auf dem Fuß, und sie war schwerwiegend. Der andere Mann schlug Filippo böse zusammen, und er traf ihn schwer am Kopf. Es dauerte Wochen, bis Filippos Wunden verheilt waren. Aber danach wurde er nie wieder der Alte. Manche sagen, der Schlag auf den Kopf sei ein bisschen zu hart gewesen. Andere sagen, eine psychische Krankheit hätte schon in ihm geschlummert, und das Trauma sei lediglich der Auslöser gewesen, dass sie offen ausbrach. Aber weil die Geschichte so märchenhaft ist, muss es wohl einfach der Verlust seiner großen Liebe gewesen sein, den er nicht verwinden konnte. Denn das wunderschöne, zarte, sanftmütige Mädchen hat er seit diesem Tag nie wieder gesehen.
Filippo kehrte nach Sizilien zurück, in seine Heimatstadt Sciacca. Aber nicht als strahlender Held, als reicher Mann, wie er es sich erträumt hatte, sondern so krank und sonderbar, dass ihn seine Freunde von früher kaum wieder erkannten. Das Geld, das er in Amerika verdient hatte, reichte immerhin für einen kleinen Olivenhain am Rande der Stadt. Dorthin zog Filippo sich zurück. In der Mitte der noch etwas kümmerlichen Bäume baute er sich ein kleines Häuschen ohne Fenster.
König Filippo, Herr über die Steine
Aber schon bald war er sich sicher: Dies war sein Schloss. Hier war sein Königreich, und er war der uneingeschränkte Herrscher. Bald schon würde das Mädchen eintreffen, seine große Liebe, und er würde sie zu seiner Königin machen. Bis dahin brauchte er natürlich noch ein paar Untertanen. Filippo meißelte sie aus Stein, zu Tausenden. Jeden Tag schnitt er verbissen neue Gesichter aus den Felsen, die er aus den kleinen Höhlen am oberen Rand seines Reichs herausschlug. Er schuf Bauern und Grafen, Priester und Nonnen, Edelfrauen mit untertäniger Miene. Filippo war kein Bildhauer, er hatte sich nie für Kunst interessiert. Einzig die Notwendigkeit, sein Königreich zu bevölkern, trieb ihn an und ließ ihn härter schuften als jemals für den Bau der Eisenbahn. An manchen Tagen konnte er sich Zeit nehmen für einen einzelnen Untertanen, konnte seine Gesichtszüge fein herausarbeiten und ihm einen Bart verpassen oder einen Hut. Dann wieder drängten sie scharenweise hinaus, und sein Meißel flog fieberhaft an vielen Stellen zugleich, um sie aus dem Gestein zu befreien. Eines Tages, so hoffte er, eines Tages würde es genügen. Dann würde seine Königin kommen. So besessen war er von der Idee, dass er sich selten eine Pause gönnte. Wenn er dann doch einmal durch Sciacca lief, lachten die Leute über ihn, aber das störte Filippo nicht, solange sie ihn standesgemäß mit „Eure Exzellenz“ anredeten. Er nannte sich „der Herrscher der Höhlen“, denn daher schließlich stammte sein Volk.
Und wenn er sein Zauber-Zepter schwang, den Schlüssel der Magie, dann wurden all die Steinköpfe lebendig. Dann huldigten sie ihrem König, und ihrer Königin, die Filippo in guten Momenten neben sich sah. Und sie bestaunten seinen Reichtum und sagten ihm: „Filippo, du hast wirklich etwas gemacht aus deinem Leben. Du hast es geschafft, o König!“
Erst als Filippo im Alter von 78 Jahren starb und seinen Verwandten nicht mehr verbieten konnte, sein Königreich zu betreten, wurde den Bewohnern von Sciacca das volle Ausmaß seines Schaffens klar. Als sie in den Olivenhain traten, blickten Tausende von steinernen Gesichtern ihnen entgegen. Und auch, wenn Filippos Zauber-Zepter mittlerweile verloren gegangen ist und seine Untertanen in ihrer steinernen Form gefangen sind, spürten schon die ersten Besucher, dass dies ein ganz besonderer Ort ist. Deshalb öffneten sie ihn für Besucher, und ein Besuch im Castello Incantato, im verwunschenen Schloss, lohnt sich auf jeden Fall!
Praktische Hinweise
Das Castello Incantato hat nach eigenen Angaben täglich von 9 bis 18.30 Uhr geöffnet, in der Sommersaison bis 20 Uhr. Die Adresse lautet Via Filippo Bentivegna 16 in Sciacca. Er Eintritt kostet 3 Euro für Erwachsene, Kinder zahlen 1,50 Euro Eintritt. Parken ist längs der Straße kostenlos möglich.
Ein paar Worte noch zum Wahrheitsgehalt meines Märchens
Über den tatsächlichen Verlauf von Filippos Lebensgeschichte ist in deutscher oder englischer Sprache wenig zu erfahren. Auch das Personal des Museumscafés kommt über eine einfache Getränkebestellung auf Englisch nicht hinaus. Was blieb mir anderes übrig, als die Lücken mit meiner eigenen Fantasie zu schließen? Belegt ist (auf Englisch) nur Folgendes: Filippo Bentivegna wurde 1888 als Sohn eines Fischers in Sciacca geboren, emigrierte als 20-Jähriger nach Amerika, wo er sich beim Eisenbahnbau verdingte. Die schwere Kopfverletzung, die ihn zur Rückkehr zwang, soll er sich bei einer Prügelei mit einem Rivalen zugezogen haben, und in der Tat soll es um eine Frau gegangen sein. Bis zu seinem Tod führte Filippo ein Leben als Sonderling, nannte sich „Herr der Höhlen“, ließ sich mit „Eure Exzellenz“ ansprechen und schwang ein Stück Holz, das er als „Schlüssel zur Magie“ bezeichnete. Er starb 1967 und hinterließ eine riesige Menge von steinernen Köpfen (die genaue Anzahl habe ich nirgends erfahren können, aber das ist auch egal, denn es sind in jedem Fall genug Gesichter, die dem Besucher in seinem verzauberten Garten entgegenblicken).
Tolle Geschichte!! Danke
Ach du heiliger Bimbam, das ist ja mal eine außergewöhnliche Location! Dass die Leute auf Sizilien besonders sind, war mir klar, aber dass jemand so etwas tolles geschaffen hat, nicht! Sehr cool. Ja, ich werde diesen Ort in meine Sizilien Bucket-List für den nächsten Besuch dort aufnehmen :) Lg Barbara
Gerade mit psychologischem Sachverstand muss das noch mal eine besonders spannende Angelegenheit sein. :)
[…] Family4travel: Sizilien – Castello Incantato, der verwunschene Schloss mit den tausend Köpfen Lena reist seit einiger Zeit mit ihrer Familie durch die Welt und hat eine großartige, (fast) wahre Geschichte über ein verwunschenes Schloss mit tausenden Steinköpfen auf Sizilien aufgeschrieben. Jetzt bin ich noch trauriger, dass Sizilien bei mir letztes Jahr ausgefallen ist. […]