Unser Aufenthalt mitten im Wald bei Tartu gehört zu den spannendsten Couchsurfing-Erlebnissen, die wir hatten. Ein Eintrag direkt aus meinem Reisetagebuch.
Die Weiterfahrt nach Tartu war eine reine Strapaze. Das Thermometer stieg auf 35 Grad. Wir fuhren mit geöffneten Fenstern und waren trotzdem alle verschwitzt. Das war es wohl auch, wo sich die Kinder was weggeholt haben – heute haben sie jedenfalls beide Kopfschmerzen und Fieber.
Beim Frühstück ging es ihnen noch gut, und wir sind zu unserem Tagesprogramm aufgebrochen, das wir jetzt entsprechend abkürzen. Martin ist gerade im Supermarkt, um die Zutaten für die Käsespätzle einzukaufen, und danach fahren wir schnurstracks zu unserer Unterkunft.
Die ist mal wieder herrlich abenteuerlich Das Haus liegt mitten im Wald, 30 Kilometer außerhalb von Tartu. Unsere Gastgeber Reet und Rain sprechen perfekt Deutsch. Ihre drei Jungs verstehen auch ein wenig, weil es nur deutsches Fernsehprogramm gibt (über Satellit). Das Haus wurde 1905 als Gutshaus erbaut, dann recht bald zur Försterei umfunktioniert. Es ist auf traditionelle Weise aus massiven Holzstämmen errichtet, dann mit Lehm verputzt, hinter dem sich viele Bausünden verbergen. Als Reet und Rain es vor elf Jahren gekauft haben, war es eine unbewohnbare Ruine. Seitdem renovieren sie es Stück für Stück und haben schon viele Überraschungen erlebt.
Unter dem Bad ist ein Kellergewölbe eingebrochen, das Rain mit einem Wagenheber stabilisiert hat. Wenn man über diese Stelle geht, hat man das Gefühl, als halte einen nur das Laminat im Erdgeschoss. Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlafzimmer, Durchgangszimmer und Kinderzimmer sind inzwischen hübsch zurechtgemacht. Drei weitere Räume gibt es noch in der unteren Etage, die mit einem bunten Sammelsurium aus den Hinterlassenschaften der Vornutzer völlig zugestellt sind. Auch der Flur ist noch eine Großbaustelle.
Die beiden haben die Tapeten vieler Jahrzehnte entfernt, und an manchen Stellen sind Zeitungsausschnitte in Frakturschrift aus der Vorkriegszeit sichtbar.
Der Shabby Chick mancher Wohnzeitschriften ist hier optimal getroffen. Auch der Garten sieht wildromantisch aus. Leider darf man nicht barfuß laufen, weil der ganze Grund mit den Scherben der Bierflaschen von russischen Forstarbeitern verseucht ist. Auf dem Strommasten nisten Störche. Die verfallenden sowjetischen Wirtschaftsgebäude stören das Bild.
Aber die Familie lebt in historischer Bausubstanz, das kann man nicht leugnen. Und das finde ich auch ziemlich cool – wenn ich persönlich so ein Anwesen auch nicht geschenkt haben wollen würde.
Wir sind gestern abends angekommen. Es gab Fleischbällchen aus dem Backofen, mit Zwiebeln und Äpfeln – das war lecker. Dann haben wir noch einen Spaziergang ums Haus gemacht und uns ein bisschen kennen gelernt. Nachdem es für die Kinder Zeit fürs Bett war, saßen wir Erwachsenen noch im Wohnzimmer zusammen (auf Möbeln, die sich in Deutschland keiner zum Sperrmüll an die Straße zu stellen trauen würde). Das war sehr interessant, wir haben einiges über Estland gelernt.
Diesen Eintrag meines Reisetagebuchs habe ich am 30. Juli 2012 verfasst.
Weiterlesen? –> Fast schon in Russland!
Tja, die Sesseln im Wohnzimmer müssen wirklich neu gepolstert werden, ich werde es mir vornehmen, wenn Einmachzeit einmal vorbei ist. Um so etwas zum Sperrmüll zu werfen, sind diese Sachen aber wirklich viel zu wertvoll.
Och, so lange es funktioniert, ist doch alles bestens. In Wirklichkeit ist unsere Wegwerf-Mentalitaet ja auch echt schlimm. Auch deshalb finde ich Reisen und Couchsurfen so wertvoll, weil man mal neue Eindruecke bekommt und all das ueberdenkt, was man zu Hause als voellig normal empfindet, obwohl es vielleicht ziemlich unlogisch ist.