Die südenglische Grafschaft Wiltshire ist nicht nur berühmt für ihre steinzeitlichen Sehenswürdigkeiten wie Stonehenge und Avebury, sondern auch für ihre gigantischen weißen Pferde. Dabei handelt es sich keineswegs um lebendige Tiere, sondern um hill figures – im Deutschen anscheinend weniger präzise „Scharrbild“ oder „Geoglyph“ genannt. Hierzu werden auf grünen Hügelflanken großkalibrig entlang bestimmter Konturen Gras und Erdboden entfernt. Der weiße Kalkboden, typisch für die Region, kommt zum Vorschein. So entsteht mitten in der Landschaft ein Bild: vorzugsweise eben das eines weißen Pferdes.
Zwischen 16 und 19 Stück gibt es in Großbritannien, sagt Wikipedia und nennt darüber hinaus eine lange Liste von „verlorenen Figuren“, bei denen im Laufe der Jahre im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache gewachsen ist. „Die haben sich ausgebreitet wie eine Seuche, jedes Dorf wollte sein eigenes haben“, lautet die Deutung unseres Couchsurfing-Gastgebers Ged. Er empfiehlt uns auf dem Weg nach Avebury einen kurzen Zwischenstopp beim Weißen Pferd von Cherhill im Nachbardorf. Dieses Exemplar gilt als das drittälteste seiner Art. Es wird mit einiger Sicherheit auf das Jahr 1780 datiert und einem Herrn namens Dr. Christopher Alsop zugeschrieben. Ged erzählt uns die Geschichte von dem „verrückten Doktor“, der sich Berichten zufolge mit einem Megafon an den Fuß des Hügels gestellt und damit den von ihm angeheuerten Arbeitern Anweisungen zugebrüllt hat.
Woher der Mann von zweifelhaftem Ruf die Idee hatte, bleibt nebulös. Eine Verbindung zum einzigen nachweislich prähistorischen Weißen Pferd von Uffington (ca. 3000 Jahre alt) wird ihm nicht nachgesagt, wohl aber eine Freundschaft zu dem seinerzeit bekannten Pferdemaler George Stubbs. Auch warum Alsops Aktion und das vermutlich nur wenige Jahrzehnte ältere Weiße Pferd von Westbury offenbar einen wahren Boom der Hügelfiguren-Produktion auslösten, ist unklar. Fakt ist, dass 1714 die englische Krone an das Königshaus von Hannover überging, welches ein weißes Pferd im Wappen führte. Aber ob entsprechend lauter Niedersachsenrösser die südenglischen Hänge zieren, ist reine Spekulation. Vielleicht hat Ged Recht, und es handelte sich einfach um eine Modeerscheinung. Die Mode hält allerdings bis in die heutige Zeit an. Gerade erst um die Jahrtausendwende herum sind ein paar neue Pferde entstanden. Ohnehin benötigen die Figuren alle paar Jahre eine gründliche Säuberungsaktion, die sich vielerorts als Tradition der Anwohner etabliert hat.
Abgesehen von den Pferden gibt es offenbar nur einige sehr moderne Figuren, die Symbole und Markenzeichen darstellen. Dann sind da aber natürlich noch die menschlichen Figuren, allen voran der Riese von Cerne Abbas und der Long Man of Wilmington. Ersterer befindet sich nicht in Wiltshire, sondern in Dorset, und wird 1694 erstmals aktenkundig. Er entstand vermutlich um die Mitte des 17. Jahrhunderts; vielleicht hat er aber auch römische oder sogar keltisch-prähistorische Ursprünge. Den Long Man of Wilmington besuchen wir ein paar Tage später bei unserer letzten Station ganz im Südwesten der Insel. Auch er galt lange als steinzeitliche Hinterlassenschaft oder wenigstens als Götterdarstellung keltischer, römischer oder angelsächsischer Zeit. Neuere archäologische Untersuchungen dagegen gehen von einer Entstehungszeit im 16. oder 17. Jahrhundert aus (was meine speziellen Freunde, die Neo-Druiden und Neu-Heiden, natürlich nicht davon abhält, den Riesen nach wie vor als „uralten Ort für Fruchtbarkeitsrituale“ zu bezeichnen und gegen alles zu protestieren, was die „heilige Stätte entweiht“).
Eine Liste der Weißen Pferde und sonstigen Hügelfiguren gibt es hier bei Wikipedia. Alle sind kostenlos zu sehen, viele auch über (teils sehr inoffizielle) Fußpfade aus der Nähe zugänglich. Oft sind die besten Aussichtspunkte und Photo-Spots ausgeschildert und mit einem kleinen Parkplatz bestückt.
Mehr England-Reiseberichte aus unserem Familienurlaub inklusive Karte gibt es in unserem England-Inhaltsverzeichnis.
Habe bislang immer gedacht, die Pferde seien prähistorisch. Danke für die Infos!
Vielerorts möchte man diese Annahme wohl auch nicht gern aufgeben und erzählt sich Legenden, dass prähistorische Bilder wenigstens zum Vorbild dienten. Und das eine Pferd von Uffington stammt tatsächlich immerhin aus der Bronzezeit.
Genau das habe ich bisher auch gedacht… Die sehen so “prähistorisch” aus. Und wieder den Wissens-Schatz erweitert, danke!
[…] Extra Tipp: Im Übrigen werdet Ihr im County Wiltshire auch immer wieder auf die weißen Pferde stoßen. Das sind gigantische Hügelfiguren aus weißem Kalk, die in der Regel schon von Weitem zu sehen sind. Zwischen Avebury und den Caen Hill Locks werdet ihr auf einige dieser Scharrbilder stoßen. Nah dran fahren lohnt sich allerdings nicht. Man erkennt die Kunstwerke tatsächlich nur aus der Ferne ;). Bei family4travel erfahrt ihr btw mehr über die Entsteheung der weißen Pferde von Südengland. […]