Wir wollten Wales doch so gerne „richtig“ kennen lernen. Mitten auf dem Land, nicht in einer der großen Städte an der Küste. Wir wollten couchsurfen, das Land „von innen heraus erfahren“. So ganz viele Gastgeber gab es nicht zur Auswahl, die bereit waren, eine vierköpfige Familie bei sich aufzunehmen. Bisher haben wir nur Anfragen an andere Familien geschickt, oder an Gastgeber mit einem detaillierten Profil und ausführlichen Bewertungen. Diesmal habe ich in meinem abenteuerlustigen Leichtsinn darauf verzichtet und habe nach etlichen Absagen anderer Couchsurfer ein Request an diese Frau geschickt, die angab, zurückgezogen in der Wildnis zu wohnen und genügend Platz zu haben, positiv bewertet von einer einzigen Nutzerin, die „leider spät kam und früh gehen musste“, wie sie knapp bemerkt. Wir haben auf Abenteuer gesetzt, und ja, Abenteuer bekommen wir.
Martin fährt auf den Hof der Fabrikruine, die wir vorhin im Vorbeifahren als mögliches Couchsurfing-Quartier kategorisch ausgeschlossen haben. Das Unkraut sprießt kniehoch, und im offenen Beladungstor lehnt eine ruinierte Matratze, durchnässt vom Regen. Okay, ansonsten ist das Elend vielleicht nicht ganz so haarsträubend, wie es von Weitem wirkte. Das Autowrack trägt ein gültiges Nummernschild und ist wahrscheinlich noch fahrtauglich. Der Sperrmüll entpuppt sich als alte, aber funktionstüchtige Hollywoodschaukel. Irgendwo tief in den Eingeweiden der Fabrik hören wir ein Motorengeräusch. Das muss Brian sein, der laut Torias E-Mail auf jeden Fall zu Hause sein sollte, selbst wenn sie selbst möglicherweise noch unterwegs sei. Besonders gesprächig sei er nicht, hat sie uns vorgewarnt. Wir sollten uns von seiner Griesgrämigkeit nicht abschrecken lassen.
„Hier sollen wir heute schlafen?“ fragt Janis ungläubig, als wir aus dem Auto steigen und auf das Geräusch zugehen. Silas nimmt unsicher meine Hand.
Brian empfängt uns freundlich. Ja, er weiß Bescheid, dass wir kommen. Toria ist aber schon zu Hause, sagt er. Ob wir schon oben beim Haus waren? Nein. Es gibt ein Haus? Also haben wir Chancen, nicht auf dem Dachboden einer Fabrik schlafen zu müssen. Nett. Brian führt uns einen zugewucherten Trampelpfad entlang. Im letzten Licht des Tages kleben meine Blicke an den vielen bunten Blüten der verwilderten Pflanzen fest. Es gibt durchaus Einsprengsel von Schönheit hier.
Eine unordentliche Parade von Gummistiefeln und Schlappen zeigt an, dass das Haus, das wir nun betreten, bewohnt ist. Gut, denn ohne diese Zeichen von Leben wären wir nicht auf die Idee gekommen, dass es sich nicht um ein leerstehendes Abbruchhaus handelt. Eine alte Kirchenbank trennt den Eingangsbereich von der Küche, wo Toria am Herd steht. Sie ist eine große, drahtige Frau mit langen weißgrauen Haaren und festem Händedruck. „Am besten zeige ich euch erstmal, wo ihr schlafen könnt“, sagt sie. „Es gibt verschiedene Möglichkeiten.“ Wir sind gespannt. Und nicht ganz sicher, ob wir nicht einfach wieder ins Auto springen, bis Cardiff durchfahren und dort mitten in der Nacht ein teures Hotelzimmer nehmen sollen. Aber dann setzen wir doch ein Lächeln auf und folgen der Hausherrin eine knarrende Treppe hinauf. Sie zeigt uns vier Zimmer, alle mit etwas Bettähnlichem möbliert und alle, nun ja. „Das sieht hier aus wie bei Omama auf dem Dachboden“, sagt Janis leise. Zum Glück ist Sommer, zum Glück haben wir eigene Laken und Schlafsäcke dabei. Wir entscheiden uns schließlich, die Jungs oben im alten Kinderzimmer von Torias Töchtern einzuquartieren. Die sind irgendwann Mitte der 90er ausgezogen. Das einzige, das sich seitdem in diesem Raum verändert hat, ist die Ansammlung von staubigem Gerümpel rechts neben der Tür. Martin und ich ziehen in den Raum darunter, in dem sich etliche von Torias Kunstprojekten stapeln. Mir ist nicht ganz wohl dabei, die Kinder in einem anderen Zimmer schlafen zu lassen, aber in keinem der Räume ist genügend Platz, um unser Luftbett aufzubauen.
Toria ruft zum Abendessen. Es gibt einen Eintopf mit allem, was der Gemüsegarten derzeit hergibt. Wir essen ihn aus Holzschüsseln, die Löffel sind aus Horn. Ich befehle mein Immunsystem dem Herrgott an und nehme beeindruckt zur Kenntnis, dass sich die Kinder nicht beschweren. Chaos, Staub und Dreck nehmen sie bemerkenswert gelassen hin.
Toria erzählt von ihrem aktuellen Großprojekt, eine Reihe afrikanischer Künstler zu einem Symposion in den Ort zu holen. Sie zeigt sich eloquent, gebildet und tiefsinnig, ein Mensch, den man gerne kennen lernt. Auch Brian taut langsam auf, und ehe der Abend um ist, führen wir so manche anregende Diskussion über Rassismus und Entwicklungshilfe, Europapolitik und Kunstverständnis. Das Paar erzählt uns seine Lebensgeschichte, die genügend Stoff für mindestens einen spannenden Roman abgäbe. Beide sind in Südafrika aufgewachsen, haben gegen die Apartheid protestiert, gemeinsam bewegte Jahre im London der 60er und 70er Jahre hinter sich gebracht. Hier in Wales haben sie eine Familie gegründet und die Fabrik aufgebaut, die zwischenzeitlich 30 Mitarbeiter hatte. Nun ist es nur noch Brian, der hier werkelt, wie ganz am Anfang. „Auf und ab, so kann es gehen“, sagt der eher wortkarge Mann lakonisch.
Der Küchenfußboden sieht aus, als sei er seit Jahren nicht gewischt worden. Trotzdem fühle ich mich wohl in Gesellschaft dieser beiden herzlichen, außergewöhnlichen Menschen und bin froh und glücklich, sie getroffen zu haben. – Zumindest bis wir in unserer Gerümpelkammer schlafen gehen und ich mich auf einem sperrmüllreifen Klappsofa ausstrecke.
Dieser Beitrag basiert auf Eintragungen meines Reise-Tagebuchs vom 27. August 2013.
Interessante Menschen, spannende Location, aber mitten im Sperrmüll zu schlafen ist dann doch ein bißchen… gruselig. Was sagte deine Hausstauballergie dazu? ;-)
Herzlich, Katja
Die sagte: „Lange nicht gesehen, hier bin ich!“ :/
uh ah oh wow! Das ist uhm SPANNEND! Und gruselig. Und bringt mich vielleicht doch wieder ab von jeglicher Couchsurfinganwandlung. :D Sehr schön geschrieben!
Danke. ;) Ihr könnt gerne mal zum Üben bei uns vorbei kommen, hier gibt’s „Couchsurfing für Anfänger“. :)
Toll, dass das offenbar doch geklappt hat mit dem Kommentieren. Du musst mir bei Gelegenheit noch mal erklären, was das Problem ist und was ich dagegen tun könnte…
Wahnsinn. Die Anfahrt war ja schon spektakulär, aber das toppt es noch…
Ja, aber so im Nachhinein war es eigentlich ganz witzig. :)
„Im Nachhinein war es eigentlich ganz witzig“. Ja, kenn ich. Hatte ich auch schon ein paar mal. So wie der französische Couchsurfer, von dem ich dachte er wäre duschen, bis ich gemerkt habe, dass er in unserem Schlafzimmer am Stage Piano meines Mannes saß und total in sich versunken dort seit einer halben Stunde vor sich hinspielte. Ganz gemütlich auf dem Berg von Dreckwäsche sitzend, den ich dort zum Waschen auf den Klavierhocker gelegt hatte.
Hihi, das ist auch schräg.
Aber auch Jahre später bleibe ich dabei: Es gibt immer noch keine Couchsurfing-Erfahrung, auf die ich im Nachhinein lieber verzichtet hätte.
Hast mich bei Instagram neugierig gemacht, musste also unbedingt eure Wales-Couchsurfing Geschichte nachlesen. Verrückt, was einem so alles passiert. Aber das sind doch die Geschichten, die bleiben! Liebe Grüße Jenni
Es ist auf jeden Fall eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte! :)