Ich hatte Angst vor Weihnachten. Als wir zu Hause unsere knapp einjährige Reise planten, war ich überzeugt, dass Heiligabend unvermeidlich der emotionale Tiefpunkt unseres Abenteuers darstellen würde. Überraschenderweise kam es anders.
Weihnachten zu Hause
Zu Hause zelebrieren wir haufenweise kleine Rituale in der Adventszeit. Wir backen Plätzchen, zünden beim ausgedehnten Sonntagsfrühstück die Kerzen des Adventskranzes an. Wir bauen die Krippe auf und nehmen uns dort jeden Nachmittag ein paar Minuten, um zwei, drei Weihnachtslieder zu singen. Dabei zünden wir Teelichter an – jeden Tag eins mehr – und setzen Maria und Josef einen Schritt näher an Bethlehems Stall. Heiligabend ist dann geprägt von einem festen Ablauf: Gemeinsam schmücken wir am Vormittag den Weihnachtsbaum, mittags stecken wir die Kinder in die Wanne, und dann gehen wenigstens die Frauen und Kinder der Familie gemeinsam in die Kirche. Anschließend gibt es ein Drei-Gänge-Menü in unserer schönen großen Wohnküche. Alle sind da: Oma, Opa, Tante, Onkel und Uroma. Die Geschenke liegen bereits unter dem Baum, in Sichtweite des Esstischs – was Janis vor einigen Jahren schon als „süße Art von Folter und eigentlich den besten Moment von Weihnachten“ beschrieb.
Wenn der Nachtisch verspeist ist, entzünden wir die echten Kerzen am Baum (vorher hat nur die Lichterkette geleuchtet). Wir platzieren das Jesuskind in der Krippe, singen Weihnachtslieder und beginnen dann endlich mit der Bescherung. Ein Geschenk nach dem anderen wird ausgepackt, und weil wir so viele sind, und weil jeder Fotokalender, jedes Spiel und jedes Buch erst die Runde machen muss, dauert das oft fast bis Mitternacht. – Oh, ganz wichtige Begleiterscheinung ist noch der Rumtopf, den wir den Sommer über selbst angesetzt haben, und natürlich selbstgebackene Plätzchen in rauen Mengen. Der Weihnachtstag steht dann ganz im Zeichen der neuen Gesellschaftsspiele und noch mehr Festessen, diesmal von Oma zubereitet. Und am zweiten Feiertag bekommen wir meist Patentantenbesuch mit Familienanschluss, was zum ungezwungenen Resteessen führt. All das sind wunderschöne Rituale, die mir so wichtig sind. All das zusammen ergibt Weihnachten, die vielleicht schönsten drei Tage des Jahres.
Weihnachten weit weg von zu Hause
Wir wussten von vornherein, dass wir dieses Jahr, unterwegs auf unserer großen Reise, nichts davon haben würden. Ich war überzeugt, dass es zwangsläufig ein trauriges Fest werden würde. Weit weg von allen, die uns wichtig sind. Ich sah uns schon deprimiert in irgendeiner anonymen Ferienwohnung stranden, wo wir einen im Park gepflückten Koniferenzweig in ein Bierglas stellen und mit Sternen aus Alufolie behängen würden. Selbst das wäre sicherlich eine erhellende Erfahrung, sagte ich mir. Trotzdem habe ich – ohne viel Hoffnung – frühzeitig auf allen Couchsurfing-Plattformen meine Fühler ausgestreckt, um eine Gastfamilie für die Feiertage zu finden. Dass es schwer werden würde, Freiwillige aufzutreiben, die uns über Weihnachten bei sich aufnehmen, war mir klar. Denn, ganz konkret, würden wir Fremde zu uns einladen, über diese mir so wichtige Zeit? Die mir meine geliebten kleinen Rituale durcheinander bringen? Noch während ich mein Gesuch schreibe, gehe ich in mich und suche die Antwort auf diese Frage. Nach einiger Zeit entscheide ich mich für: Vielleicht, unter gewissen Umständen, aber nicht unbedingt mit Freuden.
Blöderweise fällt meine Suche mit dem neuesten Re-Launch der Couchsurfing-Seite zusammen, die den kostenlosen Service zu einem ziemlich hirnlosen Party-Netzwerk macht, absolut unpraktikabel für unsere Zwecke. Mehrere Tage lang ist die Webseite nicht zu erreichen, anschließend fehlen die wichtigsten Funktionen, Benachrichtigungen verschwinden im Nirvana. Zum Glück ist der wahre Couchsurfing-Spirit der Mitglieder geblieben, verschüttet irgendwo unter den unnützen neuen Features. Als sich der Nebel halbwegs lichtet, haben wir dreieinhalb Einladungen in der Region, die wir bis Heiligabend erreichen könnten. Gerührt checken wir die Entfernungen und möglichen Reiserouten, lesen aufmerksam die Profile und lassen unser Bauchgefühl entscheiden.
Weihnachts-Asyl bei englischen Expats
So landen wir am 23. Dezember schließlich bei Familie M. mitten im bulgarischen Nirgendwo. Steve und Sharon stammen aus England. Als sie jung waren, haben sie gemeinsam ihre Heimat verlassen, um permanent um die Welt zu tingeln. Irgendwann holte der Kinderwunsch sie ein, und sie brauchten wenigstens ein Basislager. „Es war Steves Mum, die uns den Link geschickt und uns damit auf die Idee gebracht hat“, erzählt Sharon. „Sie schrieb: ‚Guckt mal, in Bulgarien kann man für 4000 Pfund ein ganzes Haus kaufen!’“ Natürlich liegt besagtes Haus in einem Kuhdorf, weit ab vom Schuss. Als sie es besichtigten, befand es sich in einem derart desolaten Zustand, dass sich der durchschnittliche Westeuropäer die Frage, ob sich eine Renovierung lohne, nicht einmal gestellt hätte. Steve und Sharon aber sind keine durchschnittlichen Westeuropäer, sie nehmen die Herausforderung mit Freuden an.
Fünf Jahre später leben sie in einer urgemütlichen Mischung aus zentralbulgarischer Bruchbude und englischem Cottage. Im Ofen prasselt ein heimeliges Feuer, in der Ecke ist unter einer schweren Ladung Lametta ein Weihnachtsbaum aus Plastik zu erahnen, unter dem sich bereits die Geschenke türmen. Die meisten davon sind für Seb und Sam, die beiden Jungs, die inzwischen fünf und zwei Jahre alt sind. Und ein paar sind auch für uns! Es ist unglaublich, mit welcher Herzlichkeit uns die Familie empfängt.
Die Jungs verlieben sich augenblicklich in den halbblinden Kater, den Steve vor einiger Zeit blutend im Garten gefunden hat. Auch mit den beiden jungen Hunden, die ein ähnliches Schicksal hinter sich haben, freunden sie sich an. Komplettiert wird die Wohngemeinschaft von Steves Mum. Sie hatte keine Lust mehr, sich entscheiden zu müssen, ob sie sich von ihrer schmalen Rente in England die Heizkosten oder genügend Lebensmittel leistet. „Wenn du ein britisches Gehalt bekommst, kannst du hier selbst mit einem Halbtagsjob beinahe fürstlich leben“, schwärmt Steve, der online osteuropäische Geschäftsleute in Englisch unterrichtet. Sharon hat sich kürzlich einen Traum verwirklicht und im nahen Kreisstädtchen einen Tattooladen eröffnet. „Wenn wir in England leben würden, müsste ich voll arbeiten, damit wir alle Rechnungen bezahlen können“, sagt sie. „Hier mache ich drei Tage in der Woche für ein paar Stunden den Laden auf. Ich habe mehr Kunden, als ich bedienen kann, aber mehr arbeiten will ich gar nicht. Ich möchte mir die Zeit nehmen, meine Kinder aufwachsen zu sehen.“ Sie lächelt. „Das kann ich hier, und selbst Steve kann das, ohne dass wir uns finanziell einschränken müssen. Allein schon dafür hat es sich gelohnt, hierher zu ziehen.“ Mir als gutem deutschen Skeptiker schießen sofort haufenweise Gegenargumente durch den Kopf: Was passiert im medizinischen Notfall, wie ist das mit den öffentlichen Schulen, die meinen Informationen nach grauenhaft sein sollen, und was ist mit der Altersvorsorge? Nach kurzem Überlegen verkneife ich mir eine Grundsatzdiskussion. Schließlich ist Weihnachten. Außerdem haben wir hundert andere Dinge, über die es sich zu philosophieren lohnt.
Eine Viertelstunde nach unserer Ankunft sitzen wir mit einer guten Tasse Tee in der Hand in der Küche, wo kupferne Töpfe und Pfannen von den alten Dachbalken baumeln, und tauschen Reisegeschichten aus. Die vier Jungs puzzeln währenddessen im Kinderzimmer Holzschienen für die Briobahn zusammen. Wir haben Weihnachts-Asyl bei Fremden beantragt, aber jetzt besuchen wir alte Freunde, die wir lediglich vorher noch nicht kannten.
Heiligabend mitten in Bulgarien
Natürlich läuft an Heiligabend alles ganz anders als sonst. Und doch ist es fast ein bisschen wie zu Hause. Wir haben abgemacht, dass wir am 24. deutsche Weihnachten feiern und am 25. englische. Wir unternehmen gemeinsam einen Spaziergang durch den herrlich milden Winter, erkunden das ländliche Bulgarien. Eine Zeitlang sehen wir den Nachbarn zu, die gerade ein Schwein geschlachtet haben, und lassen dann die Kinder dann mit dem Familienhund durch den Wald toben.
Als es dunkel wird, bereiten Martin und ich ein nettes Abendessen zu, weihen unsere Gastgeber in einige unserer Traditionen ein, und stimmen schließlich unterm Weihnachtsbaum „Oh Tannenbaum“ an – wir auf Deutsch, unsere Gastgeber auf Englisch. Ein Geschenk dürfen die Kinder bei der „deutschen“ Bescherung auspacken, der Rest bleibt für den Weihnachtstag. Unsere Jungs akzeptieren das ohne jedes Murren, denn wir öffnen das riesengroße Paket, das Oma und Opa uns aus Deutschland geschickt haben. Unzählige Weihnachtsleckereien kommen zum Vorschein, und sogar selbstgebackene Plätzchen! Für Janis ist ein Stapel Comics dabei, Silas packt ein kleines Päckchen Playmobil aus. Beide Kinder sind glücklich. Wir auch. Per Skype beamen wir uns kurz nach Hause, wo Oma, Opa, Tante, Onkel und Uroma Weihnachten ohne uns feiern. Wir tauschen gute Wünsche aus, winken in die Web-Kamera und präsentieren uns gegenseitig unsere Weihnachtsbäume. Alle lachen, und ich habe nicht einmal das Bedürfnis, durch die Leitung nach Hause zu kriechen. Es wundert mich selbst ein bisschen. Noch mehr erstaunt mich, als Silas mir beim Insbettbringen in geschwollenem Tonfall sagt: „Es gibt Tage, an denen wünscht man sich nach Hause, und es gibt Tage, an denen denkt man, dass die Reise ewig so weitergehen soll. Heute ist bei mir letzteres der Fall.“
Am 25. lernen wir neue Weihnachtstraditionen. Noch im Schlafanzug trifft sich die Familie in der Küche zum Frühstück. In der Pfanne brutzelt Fisch, den zwar keiner essen will, „aber zu Weihnachten muss es morgens nach gebratenem Fisch riechen, sonst ist nicht Weihnachten“, sagt Sharon. Nutznießer dieses Rituals ist später die Katze. Seb und Sam hüpfen aufgeregt um den Weihnachtsbaum, warten aber genauso geduldig wie unsere Jungs an Heiligabend, bis die Erwachsenen mit dem Essen fertig sind.
Schließlich darf der Jüngste die Geschenke verteilen, die liebevoll verpackt und mit Namensschildchen versehen sind. Dem Alter nach wird reihum eins nach dem anderen geöffnet, und wir freuen uns gemeinsam. Es ist gar nicht so anders als zu Hause. Zum traditionellen Weihnachtsessen lernen wir als Beilage zum Truthahn Yorkshire Pudding kennen (eine Art geschmackloser Muffin), und zum Nachtisch gibt es Christmas Pudding, ordnungsgemäß flambiert, aber nicht mehrere Jahre durchgezogen, wie die Tradition es eigentlich erfordert. Er schmeckt trotzdem prima, ebenso wie die mince-pies, die sausage rolls und der Dresdener Stollen aus dem heimatlichen Care-Paket, der das Mahl als Anachronismus komplettiert.
Nach dem Essen ziehen sich die Jungs mit dem bulgarischen Kindermädchen konspirativ ins Spielzimmer zurück, wo sie eine „Show“ vorbereiten. Sam übermannt während der Proben der Schlaf, aber zwei weihnachtliche Superhelden, ein tanzender Schneemann im weißen Nachthemd und eine mehr oder weniger freiwillige Katze verhelfen der internationalen Produktion zu einem großartigen Erfolg. Als wir die Kinder schließlich erfolgreich ins Bett manövriert haben, kommt das Trivial Persuit-Brettspiel in der Travel-Edition auf den Tisch, und unter viel Gelächter lernen wir eine Menge über die britische Sicht auf die Welt dazu, und dass auf die Ozeanien-Fragen fast immer „Australien“ oder „Kylie Minogue“ die richtige Antwort ist.
Viel zu bald müssen wir Abschied nehmen von unseren Freunden, die uns in dieser kurzen Zeit dermaßen ans Herz gewachsen sind. Wir reden Silas den Plan aus, heimlich die Katze in unser Auto zu schmuggeln, und Steve den, wenigstens einen unserer Jungs für ein paar Monate zu behalten, um der Familie ordentliches Deutsch beizubringen. Es waren drei volle Tage ohne jede Sightseeing-Ambition, ohne Schulaufgaben und ohne Reiseprotokoll. Trotzdem waren es die vielleicht intensivsten und sicherlich die drei schönsten Tage unseres Trips.
Toll!
Ja! Aber deine Art, Weihnachten zu feiern, finde ich auch ganz, ganz toll und bewundernswert!
Schön! Wir hätten euch schon an Weihnachten aufgenommen, aber leider geht die Reise dieses Jahr ja woanders hin. Ganz fremde Couchsurfer zu Weihnachten … Keine Ahnung, vielleicht. Es kann gut gehen, es kann aber auch immer schief gehen.
Wie hat es euch eigentlich in Kosovo gefallen? D&D sagten, dass sie euch recht nett gefunden haben. :)
„Keine Ahnung, vielleicht“ – genau! Als guter Mensch müsste man eigentlich, aber wenn’s schlecht läuft, hockt man da aufeinander, und das schöne familiäre Weihnachtsfest ist ruiniert. Umso dankbarer bin ich Sharon und Steve, dass sie das Experiment gewagt haben, denn als Gastgeber hatten sie mehr zu verlieren als wir, die wir als Reisende ohnehin mit der besinnlichen Weihnacht abgeschlossen hatten.
Kosovo war ein großartiges Abenteuer, über das ich irgendwann unbedingt auch noch berichten muss! Ich danke dir sehr, denn ohne deine Intervention und deine „Verkupplung“ hätten wir uns wohl nicht getraut. Die Familie war spitze, wir hatten eine tolle Zeit, und weißt du, was wir als Tüpfelchen auf dem i noch von ihnen geschenkt bekommen haben, nachdem ich erwähnte, wie sehr es mir in Estland gefallen hat? Eine Tüte Kama! Wann immer ich mir eine Portion genehmige, denke ich an die beiden und an euch! :) Liebe Grüße!
:D Dann haben sie euch doch sehr gemocht. Schon als D & D mit Baby P in Prag wohnten, war Kama für sie etwas Besonderes und ich vermute, dass man es nach Kosovo noch seltener bringen kann als nach Prag.
Ich werde ganz neidisch!
Ich würde unser Weihnachten nicht eintauschen gegen ein heimatliches, selbst wenn ich gekonnt hätte. :) Aber ich freu mich auch wieder auf heimische Weihnacht nächstes Jahr.
Das klingt wunderschön und freut mich sehr für euch, dass das Experiment so gut geglückt ist!
Danke schön! Wir waren auch sehr froh! :)
Ganz gebannt habe ich eure Weihnachts-Geschichte gelesen.
Was für ein tolles Erlebnis fernab der Heimat.
Alles Gute euch Vier für 2015!
Bea
Vielen Dank, liebe Bea! Euch auch!!
Liebe Lena, das liest sich ganz toll!
Multikulturelles Weihnachten.
Am Besten gefiel mir der Satz, dass Ihr Freunde besucht habt, die Ihr lediglich vorher noch nicht kanntet…
Das trifft Eure Erfahrung auf denPunkt.
Frohes neues 2015!!
Lg aus Kopenhagen
Mary
Danke, Mary! So sollte CS immer sein, und oft ist es das auch. Wir hatten schon viele tolle Erfahrungen. Aber wenn es auch Weihnachten perfekt ist, wo es wirklich drauf ankommt, dann ist das wirklich großartig! :)
Liebe Grüße, und auch euch alles Gute für 2015!
Soon so schön! Hach, ist das schön. Toll geschrieben und jetzt möchte ichgar ich ganz dringend mal wieder couchsurfen. Das haben wir uns mit Kind erst zwei mal getraut, aber ich habe auch noch nie nach Familien geschaut.
Mit Familien ist es oft wirklich großartig. Wir schauen dann meist schon, dass es vom Profil her so aussieht, als würden wir so ungefähr auf einer Wellenlänge schwimmen. Jetzt mittlerweile mit den großen Jungs ist das fast egal, die können sich an alles anpassen, aber mit kleinen Kindern waren wir auch vorsichtiger. Wir haben oft in einem größeren Radius nach Couchsurfern geschaut und für eine nett klingende Familie häufig die Reiseroute angepasst. Das machen wir aber immer noch so, weil man Länder und Gegenden einfach viel intensiver kennenlernt, wenn Einheimische sie einem erklären.