Normalerweise stammen im family4travel-Blog alle Beiträge aus Familienhand: in 95 Prozent der Fälle von mir, ab und zu dürfen auch Janis und Silas mal ran. Im Zuge unserer Blogparade „Meine Reisen als Kind“ aber sind Gastbeiträge von Nicht-Bloggern durchaus erwünscht. Deshalb schreibt hier heute Reet aus Estland. Sie lebt mit ihrem Mann und drei kleinen Jungs mitten im Wald bei Tartu. Wir haben sie 2012 kennen gelernt, als wir sie als Couchsurfer besucht haben.
„Iss doch was!“ Mutter packt den Picknickkorb. Vater ist schon draußen beim Auto. Ich sitze am Küchentisch und habe überhaupt keinen Hunger. Es ist sehr früh am Morgen, die Sonne scheint, ich bin noch gar nicht wach. Meine Mutter glaubt aber fest daran, dass kind ohne Frühstück nicht aus dem Haus darf. Und aus dem Haus muss ich, denn wir gehen auf eine Reise.
Die meisten Reisen in meiner Kindheit begannen sehr früh am Morgen. Mein Vater wollte schon um sieben Uhr unterwegs sein, damit es weniger Verkehr gibt. Egal, wohin wir fuhren. Auf dem Rücksitz des familieneigenen „Moskwich“ musste ich mucksmäuschenstill sitzen. Keine Gespräche im Auto, kein Spielen. So habe ich sehr früh gelernt, mich über die wechselden Ausblicke zu freuen. Eigentlich machte es Spaß, zu sehen, wie lange der Wald jetzt dauert… oder wie das nächste Bauernhaus aussieht.
Wir reisten fast immer zu Bekannten. Hotels gab es damals keine oder selten, dort ein Zimmer zu kriegen war unmöglich. Also fuhren wir immer zu dieselben Orten – in die Hauptstadt Tallinn zu den Verwandten, auf die Insel Saaremaa zu Mutters Freundin, nach Sankt Petersburg und Riga zu Bekannten.
Dort konnten wir dann im Wohnzimmer campen. Dass es bei meisten besuchten Familien keine Kinder meines Alters gab, störte mich wenig, Hauptsache, es gab Kinderbücher. Die las ich dann abends, während die Erwachsenen sich unterhielten. Tagsüber gingen wir an den Strand oder einkaufen. Oder in den Zoo oder in den Vergnügungspark, den ich komplett sinnlos fand. Erst mit 10 durfte ich in ein Museum und in eine Kirche, denn Museen und alte Gebäude sind nichts für Kinder – glaubte meine Mutter. Vielleicht hatte sie aber selbst keine Lust darauf, sich Sehenswürdigkeiten anzuschauen – oder hatte sie Angst, ich würde im Museum laut reden. Das durfte man ja nicht!
Falls es in der Gastgeberfamilie doch Kinder gab, mussten wir zusammen spielen. Kein Problem, solange es Esten waren. In Lettland gab es aber einen Jungen, der genauso alt war wie ich. Gints hiess er, und Estnisch sprach er nicht. „Sprecht doch Russisch miteinander, ihr lernt es ja in der Schule!“ sagten die Eltern. Tja, Gints war in einem Fussballverein, wo es viele Russen gab, also konnte er Russisch. Ich dagegen hatte zwar vieles über den Tagesplan eines Schulkindes gelernt und über die Kühe der Tante auf dem Lande wusste ich auch, aber wie man sich über die Regeln eines Brettspieles einigt oder fragt, wo die Toilette ist, lernten wir in der Schule nicht. Übrigens konnte ich nie Russisch sprechen, auch nicht nach 11 Jahre Unterricht.
Es war aber nicht alles langweilig oder gezwungen. Ich bin als Kind sehr gern gereist, denn so konnte ich Neues sehen. Es gab Picknicke am Sandufer von Fluss Gauja in Lettland, Fossilesuchen in Saaremaa, Staunen und Gucken in der Altstadt von Tallinn. Felder und Wälder, unbekannte Städte und Dörfer. Während 30 Jahren hat sich vieles verändert, aber so manche Orte sind noch immer dieselben. Die lettische Stadt Bauska sieht noch immer genauso aus – dort fahren wir immer durch, wenn wir nach Deutschland gehen. Meine Kinder hatten am Järve-Strand in Saaremaa genauso viel Spass in den hohen Wellen wie ich damals. Lange Autofahrten genieße ich noch immer sehr. Und mein Mann will immer früh am Morgen losfahren (für ihn ist „früh“ aber um neun oder so). Unsere Kinder dürfen aber im Auto reden und in die Kirchen und Museen gehen wir alle sehr gerne. In der Kirche erkennen sie Jesus, aber in alten Burgen kann man schön Gollum oder Ritter spielen. Reisen ist doch etwas auch für Kinder.
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Übrigens: Reet schreibt ein eigenes Blog über ihr Familienleben . Falls jemand sein Estnisch verbessern möchte, kann er oder sie Stöbern gehen: Koduperenaine. :)
Die erste family4travel-Blogparade zum Thema „Meine Reisen mit Kind“ hat heute ihren letzten Tag. Wer also noch ganz schnell mitmachen will, sollte sich beeilen. ;)
Schön, mal ein ganz anderer Blickwinkel :). Und Reet schreibt ja supergut Deutsch!
Als Kind (naja…seien wir ehrlich, daran hat sich bis heute wenig geändert…) habe ich Museen und Kirchen übrigens überhaupt nicht spannend gefunden , sondern wollte viel lieber in Vergnügungsparks – doch meinem Vater war das viel zu teuer und er lehnte so etwas „Kindisches“ strikt ab. Hätte auch gerne noch bei der Blogparade mitgemacht, aber bis zur Deadline schaffe ich’s leider nicht.
Viele Grüße,
Heike // nordetrotter
Ja, Reets Deutsch ist großartig. Ich musste ihr versprechen, Fehler auszubügeln, aber ich habe nur zwei Mal eine Präposition ändern müssen, und ansonsten nur die ß verteilen, die sie auf ihrer Tastatur nicht hat. :)
Schade, dass du es nicht geschafft hast. Ich kenn das. Und jetzt schaff ich es selber nicht, mich mit der Auswertung an meinen Zeitplan zu halten. :)