Uralte, knorrige Bäume, jahrhundertealte Mühlsteine am Wegesrand und ein neu belebter Steinkreis – ein Spaziergang zu den Nine Ladies im Peak District ist ein Abenteuer mit vielen Entdeckungen.
Bis zur vereinbarten Ankunftszeit bei unseren Couchsurfing-Hosts bleiben uns noch ein paar Stunden, und so suchen wir in der POI-Liste unseres Navis Werner nach einer Idee, was wir bis dahin in der Nähe von Sheffield tun können. Viel listet Werner uns nicht auf, aber „Nine Ladies Stonecircle“ klingt doch ganz vielversprechend.
Von der Autobahn aus lotst Werner uns auf winzige Nebenstraßen, durch das Örtchen Matlock und in überraschende Höhen. Wir genießen die Aussicht hinter der Frontscheibe und erreichen ein Waldgebiet. Mitten im Nirgendwo verkündet Werner: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Ah ja? Hier ist nichts. Schulterzuckend beschließen wir, den Wagen am Straßenrand abzustellen und trotzdem eine Runde zu gehen. Die Gegend sieht nett aus, und wir haben lange genug im Auto gesessen.
Wir folgen einem Wegweiser, auf dem lapidar „public footpath“ steht. Dieser steigt an und windet sich, macht richtig Lust aufs Spazierengehen und führt uns an interessanten Steinformationen vorbei. Hinter jeder Kurve entdecken die Jungs etwas Neues, das ihre Aufmerksamkeit fesselt. Eine Ruine neueren Datums ragt an einer Kreuzung vor uns auf. Wir versuchen zu erraten, wozu sie diente und wie sie in diesen Zustand geriet. Kein Wohnhaus jedenfalls. Vielleicht ein Gebäude, das zu einem Steinbruch gehörte?
Die Kinder wählen willkürlich einen der unbeschilderten Pfade aus und stürmen bergauf. Die Landschaft lässt zunehmend eine frühindustrielle Nutzung erkennen und erhärtet unsere Steinbruch-Theorie. Da sind Wasserabläufe und Schienen im Boden. Ein Bächlein murmelt in einer Rinne quer über den Weg. Ein Mini-Wasserfall ergießt sich plätschernd in einer geradezu surreal grünen Umgebung in ein kleines Steinbecken. „Ich glaube, hier ist das Paradies“, stellt Silas zufrieden fest und lässt den Wasserstrahl über seine Finger laufen.
Wir wandern weiter, vorbei an Abhängen und kleinen Schluchten. Am Wegesrand bemerken wir kreisrunde Steinscheiben, ganz offensichtlich von Menschenhand bearbeitet. Mühlsteine? Aber sie haben kein Loch. Wurden sie hier produziert und niemals fertig gestellt? Warum hat sie niemand mitgenommen? Das Moos an den Steinen zeigt uns, dass die Dinger schon eine Ewigkeit hier lagern. So einfach trägt die auch keiner weg. (Später finden wir heraus, dass die Steinbrüche dieser Gegend im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit tatsächlich bekannt für ihre Produktion von Mühlsteinen waren und die Exemplare am Wegesrand schlichtweg als dekorative Überbleibsel angesehen werden, die der Gegend Identität verleihen.)
Wir machen eine Pause. Die Jungs nicht. Sie sind viel zu entzückt über die idealen Kletterbäume links und rechts des Weges. Ruckzuck hangeln sie sich mehrere Meter über dem Erdboden von Ast zu Ast. „Das ist der schönste Wald, der mir je untergekommen ist!“ bölkt Janis von oben. Auch mir gefällt es hier wunderbar. „Ist überhaupt kein Verlust, dass wir diesen Steinkreis nicht gefunden haben“, sage ich zu Martin.
Ein bisschen Zeit haben wir noch und laufen noch etwas weiter. An zwei Abzweigungen müssen wir uns entscheiden und wählen intuitiv „den schöneren“. Tipps von Wegweisern gibt es nämlich keine. Ein Schleusengatter erlaubt den Zutritt auf eine Schafweide, und die wollen die Jungs gerne mal erkunden. Es ist immer noch unglaublich grün um uns herum.
„Jetzt müssen wir aber langsam mal umkehren, damit wir nicht zu spät zu unserer Couchsurfing-Familie kommen“, mahnt Martin. „Gleich“, sagt Janis. „Ich will nur noch erkunden, was das da hinten wohl ist.“ Er darf – und findet den Steinkreis. Wir sind etwas verblüfft, denn wir haben das Gefühl, wirklich willkürlich verschlungene Pfade gewählt zu haben. Aber da stehen die neun steinernen Ladys im Rund, und ein Schild daneben erzählt die Geschichte. Es ist dieselbe, die ich schon oft über solche Orte gehört habe, egal ob in Großbritannien, Deutschland oder Skandinavien: In der Frühzeit des Christentums setzten sich uneinsichtige Heiden über das Tanzverbot am Sonntag/Samstag/Karfreitag hinweg, und zur Strafe verwandelte der liebe Gott sie alle in Steine. Auch der Flötenspieler ist häufig dabei – ein etwas abseits stehender Stein, der in Wirklichkeit vermutlich astronomische Aufgaben hatte.
Bei den „nine ladies“ treffen wir auch wie schon drei Jahre zuvor in Irland auf zeitgenössische Zeichen der Verehrung. Ein Baum neben dem Steinkreis ist mit allerlei Naturmaterialien und Basteleien geschmückt. Zunehmend haben aufgeklärte, moderne Menschen das Bedürfnis, an uralten Ritualplätzen wie diesem „Opfergaben“ zu hinterlassen. Die Religionswissenschaftlerin in mir ist fasziniert, verkneift sich an dieser Stelle aber schlaue Ausführungen (die sie an anderer Stelle bereits getätigt hat).
Diesen Eintrag meines Reisetagebuchs habe ich am 14. August 2013 verfasst. Mehr England-Reiseberichte aus jenem Familienurlaub inklusive Karte gibt es in unserem England-Inhaltsverzeichnis. Chronologisch geht es hier weiter:
Witzig, da waren wir letztes Jahr auch, und wir haben auch eine Weile gebraucht, um den Steinkreis zu finden. Dafuer ist er halt nicht so mit Touristen ueberlaufen ;-)
Also gibt es keinen direkteren Weg? Ich hatte gedacht, unser Navi hat uns schlichtweg zur falschen Ausgangsstelle geführt, und von den anderen Seite her führt vielleicht ein gut ausgeschilderter Wanderweg zum Steinkreis.
Man sagte uns, dass es von der anderen Seite leichter zu finden wäre, aber wir haben es nicht ausprobiert.