Bald ist Europawahl. Wie wichtig die für uns ist, für jede*n einzige*n, nehmen viele gar nicht zur Kenntnis. Dabei haben die Entscheidungen, die in Brüssel getroffen werden, oft einen viel direkteren Einfluss auf unser Leben als die Debatten im deutschen Bundestag. Auf jeden Fall geht es um gelebte Demokratie und um das Privileg, mitentscheiden zu dürfen. Um etwas Werbung fürs Kreuzchensetzen zu machen, beteilige ich mich deshalb gerne an der Blogparade der Meinungsschauspieler – und erzähle was zu meinem persönlichen Verhältnis zu Europa.
Was war noch mal eine Blogparade?
Das kleine Politblog (das ich selbst nicht kannte, bevor ich in einer Facebook-Gruppe von der Aktion las) hat also eine Blogparade ausgerufen. Das sind virtuelle Aufsatzsammlungen in ganz unterschiedlichen Blogs zu einer zentralen Fragestellung.
Ich selbst habe so etwas auch schon mehrmals initiiert: Meine Reisen als Kind lautete das Aufsatzthema 2013, für das zehn Blogger*innen in eigenen Kindheitserinnerungen kramten (plus 5 meiner eigenen Familienmitglieder, was die Sache besonders spaßig machte). 2019, als wir selbst noch einmal Nachwuchs bekamen, fragte ich nach dem ersten Urlaub mit Baby. Da war die Ära der Blogparaden längst vorbei und nur noch sechs Beiträge kamen zusammen, obwohl mein Blog inzwischen viel, viel größer war. (Die waren aber durchaus spannend!)
Als Teilnehmerin habe ich zuletzt 2021 an einer Blogparade teilgenommen, als die Frage lautete: Hat Bloggen noch Zukunft?
Genau diese Frage beantwortet Google durch Neusortierung der Suchergebnisse seit einiger Zeit mit einem klaren Nein. (Die wollen euch nämlich lieber selbst etwas verkaufen, als kleinen Blogs Einnahmen über Affiliate-Links zu gönnen. Das war so ein richtiger Erdrutsch in der Szene und ich bin heilfroh, dass ich mich gerade rechtzeitig einem anderen Hauptberuf zugewandt habe.) Seitdem besinnen sich einige Bloggende (die, die nicht frustriert aufgeben) auf alte Netzwerktechniken und holen die Blogparade aus der Mottenkiste. Ich mochte die immer, also bin ich natürlich dabei!
#EuropaUndIch
Das Thema der Meinungsschauspieler lautet passend zur Europawahl „Was ist Europa für dich?“. Bei mir sind sie da natürlich an der richtigen Adresse. Europa ist genau mein Ding.
Als Reisebloggerin, zumal eine, die eine 11-monatige Langzeitreise mit Familie durch Europa gemacht hat, sehe ich da in erster Linie all die großartigen Reiseländer. Zählt man all unsere Reisen zusammen, die große und auch alle kleinen vorher und hinterher, bin ich in fast jedem Land Europas schon selbst gewesen. (Ein paar ganz kleine rutschen mir immer wieder durch die Lappen: Andorra, San Marino und so. Und in die Ukraine haben wir es leider nie geschafft.)
Schon als wir damals unterwegs waren, oft couchsurfend ganz nah dran an „echten Menschen“, wurde mir immer wieder bewusst, dass ich mich wirklich als überzeugte Europäerin fühlte. Also nicht nur als Bewohnerin eines bestimmten Kontinents, die Nachbarländer bereist, sondern auch als Befürworterin einer gemeinsamen Idee.
Das war 2014/15. Fast genau zehn Jahre her. Vor der Flüchtlingskrise, die der Syrienkrieg auslöste. Bevor die allzu gravierenden Folgen des Klimawandels allzu sichtbar wurden. Im letzten Jahr der guten alten Zeit, möchte ich fast sagen.
Unsere Reise durch Europa
In jenem Jahr haben wir 21 europäische Länder bereist: von unserem Zuhause im Schaumburger Land quer über den Balkan, bis ins rumänische Donaudelta im östlichsten Zipfel der EU. Über den Bosporus haben wir der (allerhöchstens ganz subtilen) Veränderung innerhalb desselben Landes auf der nächsten Kontinentalplatte nachgespürt. (Ähm, nee, das ist geologisch nicht ganz richtig, oder? – Ihr wisst, was ich meine.) In Griechenland haben wir die Wiege der Demokratie besucht (und sind mitten in der damaligen Euro-Krise in eine Anti-Merkel-Demonstration geraten – hat man auch alles schon wieder vergessen, ne?).
In Italien waren wir in all den Ruinen unterwegs, die das – wenn man so will – erste paneuropäische Gebilde hinterlassen hat. (Denn ja, römische Ruinen haben wir auch in Bulgarien, in Kroatien und in Katalonien besichtigt und kennen natürlich welche in Deutschland und bis hoch nach Schottland.) Wir haben uns die westeuropäische Peripherie auf Sizilien und in Portugal angeschaut. Und zum Schluss sind wir noch einmal in den äußersten Norden gereist, sind auf Island durch den Kontinentalgraben gelaufen und in der Arktis herumgestrolcht (was cool war, aber unter Klimagesichtspunkten eigentlich ziemlich unverantwortlich, denke ich heute).
Wie in einem gigantischen Kaleidoskop haben wir tausende Momentaufnahmen gesehen. Eine nach der anderen, innerhalb weniger als einem Jahr. Europa in der Gesamtschau. Nur Spotlights, klar. Aber ein grandioses Panorama. Ein Schatz. Neben dem Privileg, drei Kinder aufwachsen zu sehen und mein komplettes Erwachsenenleben mit demselben Mann zu teilen, die wertvollste Erfahrung meines Lebens.
Ja und?
Was bringt mir das aber? Als wir vor neun Jahren zurückkamen, hatte ich ein ganz bestimmtes Europagefühl in meinem Herzen. Ich fühlte mich sehr als Teil eines Ganzen.
Europa war damals ja nur unser Plan B, weil uns sechs Wochen vor Antritt unserer Langzeitreise das Visum für die USA verweigert wurde. Umso größer war meine Liebe für unseren Heimatkontinent und meine Dankbarkeit, das alles sehen zu können. (Der große USA-Roadtrip war damals unsere erste Wahl gewesen, weil wir uns dachten, wenn wir uns schon einmal eine Auszeit nehmen, dann solle es auch weit weg gehen. Europa, dachten wir, können wir ja immer mal in den Sommerferien abfrühstücken. Was für ein Denkfehler! Ich bin so froh, dass uns die Umstände diese europäische Gesamtschau ermöglicht haben!)
Europa ist nicht gleich Europa
Durch unsere Reise wusste ich ganz genau, dass Europa nicht überall eitel Sonnenschein ist. Das wussten wir natürlich auch vorher schon. Aber wir haben viele Überraschungen erlebt.
Rumänien zum Beispiel war viel fortschrittlicher, als wir erwartet haben. Hier trafen wir auch auf sehr positive Einstellungen gegenüber der EU. (Und das nicht nur aufgrund der Selbstbedienungsmentalität, die in ganz Osteuropa im Hinblick auf politische Strukturen Tradition hat. Und ja, hier bewege ich mich auf dünnem Eis, das ist mir bewusst. Aber um komplett zu leugnen, dass an dem Vorurteil was dran ist, müsste man die Augen auf einem Roadtrip mit viel Bevölkerungskontakt schon sehr fest verschließen. Es hat alles seine Gründe, ist historisch gewachsen. Die kulturellen Unterschiede zu entdecken, zu enträtseln, ist Teil des Spaßes auf der Reise.)
Eine unserer zentralen Erkenntnisse war die, dass die Peripherie im Osten gar nicht so viel anders aussieht als im Westen Europas. Wenn ich zum Beispiel heute Fotos aus einem abgelegenen Bergdorf sehe, kann ich auf Anhieb manchmal gar nicht sagen, ob das in Montenegro oder in Portugal war. Die Metropolen hingegen gleichen sich teilweise auf traurige Weise: Überall gab es die längsten Schlangen vor Starbucks und die immer gleichen Filialgeschäfte in der Hauptgeschäftsstraße.
Natürlich haben wir auch viel Elend gesehen und vieles, das schlechter lief als zu Hause. Im Kosovo hat niemand verstanden, wie wir dem gelobten Land mit dem großartigen Schulsystem (haha) freiwillig den Rücken zukehren konnten. In Griechenland fühlten wir uns in gewisser Hinsicht fehl am Platz, als bei unseren herzlichen Gastgebern die Fassade bröckelte und wir zu ahnen begannen, dass Arbeitslosigkeit die Mittelklassefamilie ziemlich direkt mit Armut bedrohte. In Spanien haben wir mit unserem Couchsurfing-Gastgeber mitgefiebert, der als Polizist durch eine Dienstverletzung seine Stelle zu verlieren drohte. Da waren wir – und sind wir heute noch – von einer EU-weiten Angleichung einer sozialstaatlichen Gesetzgebung meilenweit entfernt.
Als wir wieder zurück waren, hatte ich ganz stark das Gefühl, dass ich etwas zurückgeben wollte. Ich war dankbar, das alles gesehen zu haben. Und vor allem war ich dankbar, in ein so bequemes, wirtschaftlich sorgloses Leben in einem wohlhabenden Land zurückkehren zu können. (Tatsächlich habe ich dann während der Flüchtlingskrise ehrenamtlich ein bis zwei Vormittage die Woche in einer Notunterkunft gearbeitet und Kindern Deutsch beigebracht.)
Was bleibt von meinem „Europa-Gefühl“?
Unsere Erfahrungen aus der europäischen Gesamtschau sind jetzt fast zehn Jahre alt. Nach der Rückkehr von unserer großen Reise sind wir vier wie ein überdehntes Gummiband ziemlich schnell wieder in unser altes Leben zurückgeschnippt. Wir haben uns nach Kräften dagegengestemmt und uns einige Einstellungen auch bewahren können. Aber es ist schon leicht, wieder in das Gejammer auf höchstem Niveau und das Gemecker zurückzufallen, für das wir Deutschen zurecht in Europa bekannt sind.
Das Fass mit dem Brexit, der mich als Reiseführerautorin für Schottland und Irland ausführlich beschäftigt hat, mache ich jetzt nicht erst noch auf. Da belasse ich es bei dem Hinweis, dass mich der einmal mehr überzeugt hat, dass Europa eine gute Sache und auf jeden Fall die bessere Alternative ist.
Ich bin froh, ein Teil dieses bunten Mosaiks zu sein. Vor allem in Zeiten, in denen diese Vielfalt und das friedliche Miteinander in klar demokratischem Kontext bedrohter sind als jemals zuvor. Europa ist ein wertvoller Teil meiner Identität. Einheit in Vielfalt: So haben wir das erlebt. So möchte ich das gerne bewahren.
Auf jeden Fall gehe ich wählen.
Die Blogparade der Meinungsschauspieler läuft noch bis zum Tag der Europawahl am 9. Juni 2024. Ich würde mich sehr darüber freuen, auch eure Beiträge dort verlinkt zu sehen!
PS: Ich habe den Text ins eins runtergeschrieben. Beim nochmaligen Durchlesen ist mir aufgefallen, dass ich Europa als geografischen Sammelbegriff für Länder und die EU-Staaten munter durcheinanderwerfe. Mir ist bewusst, dass Montenegro, Kosovo und die Türkei (bisher) nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Darüber, was das für Unterschiede macht und wie wir uns fühlen, wenn wir nach einem Grenzübertritt das vertraute Symbol des gelben Sternenkranzes auf blauem Grund sehen, haben wir damals viel gesprochen. Ich will meinen Beitrag aber nicht zu sehr in die Länge ziehen.
Zum Weiterlesen
Hier sind einige Beiträge, die ich über unsere Langzeitreise durch Europa verfasst habe:
- „Wo war es denn am schönsten?“ – Unsere Europa-Highlights
- Nomadenleben: Langzeitreisen mit Kindern
- Reise-Auszeit mit Familie: Das hat unser Sabbatical gekostet
- „Travelschooling“: Das sagen die Jungs heute über ihren Reise-Unterricht
- Beziehungsweise: Liebe auf der Langzeitreise
- Interview: Mein Reisekind zieht Bilanz
Und hier sind noch ein paar andere Blogparaden, an denen ich im Laufe der Zeit teilgenommen und dabei aus dem Nähkästchen geplaudert habe:
- Kulturschock: Mitten in Europa?!
- Wellness mit Kindern: Unsere Erfahrungen in der Sauna
- #gutgemacht: Was bei uns läuft (und was nicht)
- Blogger-Selfies: Mein gestörtes Verhältnis zu Lena im Bild
- Trauminseln und Inselträume: Von Ländern mit Wasser drumherum
- Warum unsere Jungs kein Smartphone haben: Kinder und Medienkompetenz
- Authentisch Reisen: Ein Muss?
Vornweg, dass du hier nicht nur EU-Länder erwähnt hast, sondern Länder aus ganz Europa, ist gar nicht schlimm, denn die Frage ist ja, was Europa für dich ist und nicht, was die EU für dich ist. Vielleicht ist Europa ja irgendwann wirklich deckungsgleich mit der EU, aber derzeit ist das ja noch nicht der Fall.
Ich finde es spannen, dass du dich dem Thema über das Reisen näherst. Ach das ist ja Europa, ein Kontinent, auf dem viel zu entdecken ist, allerdings nur, solange wir friedlich zusammenleben. Das scheint ja derzeit ein wenig verloren zu gehen, der Brexit ist da ja ein gutes Beispiel. Wenn wir wieder zurückfallen in Nationalstaaterei, wir also die Errungenschaften der EU wieder verlieren, obwohl wir zu viel mehr erreichen könnten, wenn wir eine noch viel integrativere EU hätten, werden da viele Möglichkeiten verloren gehen. Dann wird es schwierig, all die bunten Kultursteine Europas zu entdecken.
Vielen Dank für deinen Beitrag zur Blogparade.
Ja, danke überhaupt erst einmal für die Blogparade und für den Anreiz, mir Gedanken zu machen!
Wenn ich mir den Klimawandel und die (fehlende ernsthafte) Auseinandersetzung auf globaler Ebene anschaue, habe ich mittelfristig wenig Hoffnung für einen gesitteten Fortbestand der Menschheit, geschweige denn einer demokratischen Vielfalt innerhalb einer Europäischen Union. Ich mache mit, solange es geht, und die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber ich habe schon das Gefühl, Europa 2014/15 auf seinem Höhepunkt gesehen zu haben. Ich fürchte, wir werden Zeitzeugen der Bottleneck-Theorie. Aber wäre schon schön, wenn ich mich irre. :)
Wow, ein Jahr Europa bereisen, klingt nach einem wertvollen Abenteuer. Es ist spürbar wie du noch heute nach so langer Zeit davon zehrst.
Beeindruckend für mich den Eindruck, dass es im Osten vieles gar nicht so anders ist als im Westen und man aus deinen Fotos ein lustiges Ratespiel machen könnte, wo ist es denn entstanden.
Ich freue mich, deinen Beitrag über die Blogparade entdeckt zu haben,
kometenhafte Grüße
Staphanie
Liebe Stephanie, schön, dass du hergefunden hast! Das ist auch ein Grund, warum ich Blogparaden so mag: Man entdeckt endlich auch mal wieder was Neues außerhalb der Bubble, in der man eh immer unterwegs ist.