Wir sind langsam alle so ein bisschen reif fürs Märchenland, oder? In einer Zeit, in der „echtes“ Reisen problematisch ist, nehme ich euch heute mit in eine ziemlich heile Parallelwelt. Die reale Kulisse für mein Märchen bildet der Lenorenwald. Er liegt im Klützer Winkel zwischen Lübeck und Wismar. Tour Nummer 1 unseres Naturzeit-Reiseführers* leitet auf sechs Kilometern durch das größte Waldstück der Region. Dass wir dabei auf den Spuren einer Prinzessin, eines Zauberers und gleich mehrerer Baumfeen wandern, ist nicht belegt – ergibt aber eine schöne Geschichte, finde ich.
Ein Wandermärchen – was soll das sein?
Das folgende Märchen habe ich mir ausgedacht, während wir durch den Lenorenwald gewandert sind. Ich mache das von jeher gern, reale Wegpunkte und lokale Gegebenheiten in Geschichten zu verpacken. Gerade beim Wandern können solche Märchen Kinder hervorragend zum Laufen motivieren. Gibt es dann auch noch Elemente zum Nachmachen, etwa das Suchen und Sammeln bestimmter Gegenstände, sind sie oft mit Feuereifer dabei.
Im Moment sind meine Jungs schon zu groß und mein Mädchen noch zu klein, um sich meine Geschichten ernsthaft interessiert anzuhören. Weil sich aber gerade der Lenorenwald so wunderbar dazu aufdrängt, habe ich mein Wandermärchen diesmal einfach aufgeschrieben. Vielleicht kann es ja eine andere Familie gebrauchen, die im Lenorenwald unterwegs ist.
Natürlich muss man den Lenorenwald nicht persönlich kennen, um das Märchen zu lesen. Die Grundidee eines Wandermärchens ist jedoch, anhand einer realen Wegstrecke eine Handlung zu erfinden. Deshalb müssen sich bestimmte Märchen-Elemente manchmal den lokalen Gegebenheiten unterordnen. Es kommen selten perfekte Geschichten dabei heraus. Aber die Story von Prinzessin Leonora gefällt mir gut genug, um sie hier zu veröffentlichen.
Warum der Lenorenwald manchmal auch Leonorenwald genannt wird. Ein Märchen
Es war einmal eine Prinzessin. Es könnte genauso gut auch ein Prinz gewesen sein. Aber von denen sind schon so viele im Märchenland unterwegs. Also war es in diesem Fall doch eher die Prinzessin. Zufällig hieß sie Leonora. Deshalb kommt es auch immer wieder zu Verwirrungen, ob es nun Lenorenwald oder Leonorenwald heißt. Aber von vorne…
Prinzessin Leonora sucht das Abenteuer
Prinzessin Leonora hatte einen großen Bruder. Wie im Märchenland üblich, würde der eines Tages das Königreich erben, und Leonora müsste sehen, wo sie bleibt. Also beschloss die Prinzessin, sich frühzeitig selbst um ihr Glück zu kümmern. Ihr war zu Ohren gekommen, dass es auf Schloss Kalkhorst im Lenorenwald einen jungen Königssohn gab, der eines Tages über das schöne Waldreich regieren würde. Den könnte man sich ja durchaus einmal angucken, dachte sich Leonora.
Im Lenorenwald angekommen, fand sie das Schlosstor jedoch verschlossen vor. Gleich mehrere Schilder wiesen Gäste und Bittsteller ab.
„Mag die Königsfamilie etwa keinen Besuch?“, fragte Prinzessin Leonora einen braun-gelben Kater. Der war die einzige freundliche Seele hier und strich ihr um die Beine.
„Nein“, sagte der Kater. „Das heißt… Früher hat hier ein sehr netter König regiert. Dann kam ein eines Tages ein Zauberer und hat das Schloss einfach übernommen.“ Er zuckte mit den Ohren und steckte frech seinen Kopf in Leonoras Rucksack. „Hast du etwa ein Wurstbrot dabei?“
Mit einem strengen Blick hielt die Prinzessin ihren Rucksack außer Reichweite des Katers. „Dann wird das wohl nichts mit dem Prinzen“, sagte sie mehr zu sich als zu ihrem Gegenüber. „Mal gucken, was es hier sonst noch so für Abenteuer gibt.“ Und so wanderte sie in den Lenorenwald hinein.
Der verzauberte Prinz
Sie lief am verwilderten Schlosspark entlang, wo auf einem großen See ein majestätisches Schwanenpaar über das Wasser glitt. Leonora grüßte die wunderschönen Vögel im Vorbeigehen. Sie wanderte durch den Wald und an saftigen grünen Feldern entlang.
An einem Weiher wäre sie beinahe auf einen Frosch getreten. Er konnte gerade noch wegspringen und quakte sie vorwurfsvoll an.
„Entschuldigung, ich habe dich gar nicht gesehen“, rief Leonora.
„Immer das Gleiche“, motzte der Frosch.
„Bist du ein Prinz?“, fragte die Prinzessin, denn sie hatte gehört, dass das vorkommen konnte.
„Ja, schon…“, antwortete der Frosch gedehnt.
„Aber?“, hakte Leonora erwartungsvoll nach.
„Aber der böse Zauberer hat mich in einen Frosch verwandelt“, gestand der Frosch.
Die Prinzessin nickte. „Ist mir schon aufgefallen“, sagte sie.
Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an.
„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?“, fragte Leonora. „Du wärst wahrscheinlich schon lieber wieder ein Mensch, oder?“
Der Frosch zögerte. „Ich glaube schon. Im Moment gibt es hier Mücken und Fliegen in Hülle und Fülle. Aber mir graut vor dem Winter. Und ab und zu kommen Spaziergänger vorbei. Früher oder später tritt bestimmt irgendwer auf mich drauf. Da hat man es als Prinz dann doch besser.“
„Und was machen wir da?“, überlegte Leonora.
„Vielleicht finden wir eine Hexe“, überlegte der Frosch. „Hexen können doch zaubern. Also könnte sie mich zurückverwandeln. Und Hexen wohnen im Wald.“
„Auch in diesem Wald?“, fragte die Prinzessin.
Der Prinz zuckte mit den Schultern, was bei einem Frosch ziemlich merkwürdig aussieht. „Ich bin mir nicht sicher. Als ich noch im Schloss wohnte, habe ich mich mit solchen Dingen nie weiter beschäftigt. Und seitdem bin ich noch keiner begegnet. Aber ich trau mich auch nicht hier vom Tümpel weg.“
Leonora unterdrückte ein Augenrollen, beschloss dann aber sofort: „Das klingt nach einem super Abenteuer! Ich gucke, ob ich eine Hexe für dich finde.“
Das Geheimnis der Baumfeen
So marschierte Leonora weiter am Waldrand entlang. Am Ende des Weges musste sie sich entscheiden, welche Richtung sie einschlagen sollte. Neben einer dicken Linde blieb sie stehen.
„Soll ich den lichten Weg rechts herum gehen oder den Weg nach links, der in den dichten Wald hinein führt?“, fragte sie sich laut.
„Das kommt natürlich ganz darauf an, wo du hin willst“, antwortete eine Stimme hinter ihr.
Die Prinzessin fuhr herum. Dort, wo eben noch die dicke Linde gewachsen war, stand nun eine korpulente Frau mittleren Alters mit einem freundlichen Gesicht.
„Ich bin Linda“, stellte sie sich vor.
„Bist du eine Hexe?“, fragte Leonora hoffnungsvoll.
„Ich bin eine Fee“, erklärte Linda. „Eine Baumfee, um genau zu sein.“
„Können Baumfeen zaubern?“, hakte Leonora nach.
„Natürlich“, brüstete sich Linda. Etwas kleinlauter fügte sie hinzu: „Allerdings nicht alleine. Wir sind zu fünft hier im Lenorenwald. Eigentlich sogar zu sechst. Außer mir gibt es noch Eike, Birke, Conni und die Zwillinge Pruna und Cerasa.“
„Eike, Birke, Conni?“, wiederholte Leonora zweifelnd. „Was sind denn das bitte für Namen?“
„Baumfeennamen“, entgegnete Linda etwas beleidigt. „Die heißen eben so. Conni kommt von Konifere.“
„Okay, schon gut“, sagte die Prinzessin versöhnlich. „Und zusammen könnt ihr Baumfeen also zaubern? Das trifft sich gut!“ Sie erzählte Linda vom verwandelten Prinzen.
„Wir können dem armen Kerl schon helfen“, sagte die Baumfee. „Das Problem ist nur, dass der böse Zauberer uns ebenfalls übel mitgespielt hat. Normalerweise können wir Baumfeen uns im Wald frei bewegen. Um zu verhindern, dass wir ihn wieder aus dem Schloss verjagen, hat der Zauberer uns aber mit einem Bann belegt. Wir sind alle dort festgewachsen, wo wir gerade standen, als er im Schloss die Macht übernommen hat.“
Leonora schaute auf die Füße der Fee. Tatsächlich wuchsen von dort aus Wurzeln in den Boden. Auch in ihrer menschlichen Gestalt war Linda festgewachsen.
„Dann erlöse ich euch einfach auch“, versprach Leonora. „Was muss ich dazu machen?“
Die Baumfee klatschte in die Hände. „Eigentlich ist es ganz einfach! Du musst alle Baumfeen finden und ein Blatt von ihnen einsammeln. Pruna und Cerasa zählen als eine Fee, weil sie sich ihre Magie teilen. Wenn du die fünf Blätter beisammen hast, nimmst du einen Stock und malst damit einen Stern auf den Boden. Auf jede Zacke legst du ein Blatt. Dann klatschst du drei Mal in die Hände und sagst: ‚Aus Finsternis wird Sonnenschein, gebrochen soll der Zauber sein!’“
Leonora hörte aufmerksam zu und versuchte sich die Anweisungen gut zu merken. Vorsichtig zupfte sie ein Lindenblatt von dem Baum, in den sich Linda wieder zurückverwandelt hatte. Dann verabschiedete sie sich und lief weiter in den Wald, um die anderen Baumfeen zu suchen.
Der magische Lindwurmstein
Nach einer Weile wurde der Wald immer dunkler. Rechts des Weges schimmerte eine komische Bruchbude durch die Bäume. Und links tauchte ein gemauertes Häuschen auf. „Ganz schön hässlich“, murmelte die Prinzessin.
„Ich hoffe, du meinst nicht mich!“, empörte sich etwas, das Leonora im ersten Moment für eine Steinmauer gehalten hatte.
„Auf keinen Fall“, beeilte sie sich zu versichern. „Aber wer oder was bist du überhaupt?“
„Ich bin der Lindwurm der Waldhexe“, stellte sich das Wesen vor. Es sah immer noch ganz nach einer Mauer aus, aber das sagte Leonora ihm lieber nicht.
„Es gibt hier also doch eine Hexe im Wald?“, fragte sie stattdessen.
„Klar“, antwortete der Lindwurm. „In jedem Märchenwald gibt es eine Hexe. Weiß doch jeder.“
Das brachte die Prinzessin auf eine Idee. „Könnte die nicht vielleicht auch den Prinzen zurückverwandeln, der in einen Frosch verzaubert wurde?“
„Könnte sie bestimmt“, überlegte der Lindwurm. „Aber sie ist gar nicht da. Als der böse Zauberer ins Land gekommen ist, hat sie sich auf ihren Besen gesetzt und ist weggeflogen.“
„Und hat dich nicht mitgenommen?“, fragte Leonora. „Das ist ja gemein von ihr.“
„Na ja, ich bin halt zu schwer für den Besen“, verteidigte der Lindwurm die Hexe. „Bestimmt holt sie Hilfe.“
Die Prinzessin erzählte dem Lindwurm von ihrem Plan, die Baumfeen zu befreien, damit die den bösen Zauberer mit ihrer gemeinsamen Magie verjagen konnten. Die Idee gefiel ihm gut.
„Nimm dir ein Steinchen mit von meiner Seite“, wies er sie an. „Such dir ein ganz kleines, das du gut tragen kannst. Das wird dir helfen, die Baumfeen zu finden. Du kannst den Stein einfach gegen jeden Baum halten. Wenn er eine verzauberte Fee ist, wird sie sich dir offenbaren.“
„Gegen jeden Baum?“, zweifelte Leonora. „Der Wald ist ziemlich groß…“
„Na, nur gegen besondere Bäume natürlich“, schränkte der Lindwurm ein. „Meistens erkennt man sowieso schon recht gut, mit welchem Baum es irgendetwas auf sich hat.“
Die Prinzessin nahm sich einen kleinen Stein von der Seite des Lindwurms, bedankte sich und lief weiter.
Die Suche nach der zweiten Baumfee
Leonora wanderte und wanderte. Immer wieder zückte sie ihren Lindwurmstein. Sie hielt ihn an jeden Baum, die ihr annähernd verdächtig aussah. Aber nichts passierte. An einem Rastplatz aß sie ihr Wurstbrot. Mit neuer Kraft lief sie weiter. Der Weg führte sie bergauf und bergab. Sie ging über verschlungene Waldwege und über ein Stück schnurgerade Plattenstraße.
Als sie gerade zu denken begann, dass sie die anderen Baumfeen niemals finden würde, kam sie mal wieder an eine Weggabelung. Während sie noch überlegte, welchen Weg sie diesmal einschlagen sollte, fiel ihr eine junge Birke auf. Sie stand mitten auf der Kreuzung. Die Wege führten um sie herum. An dem Baum selbst schien überhaupt nichts Besonderes zu sein.
„Aber probieren kostet ja nichts“, sagte Leonora und hielt den Lindwurmstein gegen die weiße Rinde.
„Ah, danke“, sagte die Birke und verwandelte sich in eine hochgewachsene junge Frau. „Ich weiß nicht, ob ich es ohne den magischen Stein geschafft hätte, meine menschliche Gestalt anzunehmen.“
„Offenbar eine Baumfee, die vorher wie eine Birke aussah. Dann musst du wohl Birke sein“, schlussfolgerte Leonora.
Birke nickte. „Wie der Name ja sagt“, lachte sie. „Und wer bist du?“
Die Prinzessin erzählte ihr die ganze Geschichte. Birke hörte aufmerksam zu.
„Sehr gut!“, sagte sie dann. „Du befreist uns, und dann zeigen wir es diesem ollen Zauberer. Ich mag diese Kreuzung, und der Weiher dort drüben ist mir der liebste Ort im Lenorenwald. Aber so langsam möchte ich auch mal wieder umhergehen können.“
Dann verwandelte sie sich zurück in eine Birke. Leonora zupfte ein Blättchen von einem tiefhängenden Ast und winkte zum Abschied.
Von Feen und – Feenrichen?
Als sie wenig später auf eine große Lichtung kam, fiel der Prinzessin sofort eine mächtige alte Eiche auf. Keine Frage: Das musste ebenfalls eine der Baumfeen sein. Sie hielt den Lindwurmstein gegen den vernarbten und aufgeplatzten dicken Stamm. Im nächsten Moment stand ein alter Mann vor ihr. Sein weißgrauer Bart reichte ihm bis auf die Brust.
„Huch“, sagte Leonora. „Ich wusste gar nicht, dass auch Männer Feen sein können.“
„Dir ebenfalls einen schönen guten Tag“, brummte die Baumfee leicht tadelnd. „Und natürlich können Feen auch männlich sein. Warum denn bitte nicht?“
„Das ist natürlich eine berechtigte Frage“, gab die Prinzessin zu. „Wie nennt man das dann? Bist du… ein Feenrich?“
„Eine Fee“, sagte die Fee würdevoll. „Es heißt einfach Fee. Wenn das zu ungewohnt für dich ist, nenn mich doch beim Vornamen. Ich heiße Eike. Und bevor du fragst: Ja, das ist ein Männername. Zumindest können auch Männer so heißen. Er bedeutet ‚Eiche‘, und deshalb passt er natürlich zu mir.“
Leonora berichtete Eike von ihrem Vorhaben. Wie seine Feenkolleginnen war auch er mit dem Plan der Prinzessin einverstanden. „Ich habe nichts dagegen, hier auf meine alten Tage gemütlich in der Sonne zu stehen“, sagte er. „Aber der Zauberer im Schloss hat Unrecht getan. Das sollten wir wieder geraderücken.“
Er verwandelte sich in eine Eiche zurück und Leonora pflückte ihr drittes Blatt. Dann wanderte sie weiter.
Ein Riesen-Lebensbaum
Kaum hatte sie die Lichtung verlassen und war um die nächste Ecke gebogen, erblickte Leonora einen riesengroßen Nadelbaum. Er sah ganz anders aus als die Fichten, Tannen und Kiefern, die gelegentlich im Lenorenwald wuchsen. Die Nadeln waren weich, aber richtige Blätter waren es auch nicht. Eifrig hielt sie den Lindwurmstein gegen den schlanken Stamm.
„Hast du gleich erkannt, dass ich etwas Besonderes bin, nicht wahr?“, begrüßte sie die Fee freundlich, aber auch ein bisschen eingebildet. „Ich bin Thuja Plicata, auch bekannt als Riesen-Lebensbaum. Da ich außerdem auch eine Konifere bin, darfst du Conni zu mir sagen. Das klingt einfach besser.“
„Hm“, sagte die Prinzessin unverbindlich. „Vor allem bist du aber eine Baumfee, oder?“
„Natürlich“, bestätigte Conni. „Eine Koniferen-Zypressen-Lebensbaum-Fee. So etwas findet man nicht alle Tage in einer Gegend wie dem Lenorenwald.“
„Auf jeden Fall schön, dich kennen zu lernen“, entgegnete Leonora und berichtete auch Conni von ihrem Plan.
„Dann hast du es ja schon fast geschafft, wenn du Linda, Birke und Eike schon getroffen hast“, sagte die Baumfee. „Die Zwillinge stehen hier gleich um die Ecke. Wir waren zusammen unterwegs, als der böse Zauberer ankam und uns fest im Boden verwurzelte.“
Nachdem Conni wieder zu einem Baum geworden war, pflückte Leonora ein Zweiglein davon ab und steckte es zu den anderen Blättern in ihre Tasche.
Aus Finsternis wird Sonnenschein
In der Tat fand sie nur ein kleines Stück weiter zwei Kirschbäume am Wegesrand. Noch bevor sie ihren Lindwurmstein zücken konnte, verwandelten beide sich in hübsche junge Mädchen. „Wir haben schon dein Gespräch mit Conni mit angehört“, sagte eines von ihnen. „Ich bin Pruna, das ist meine Schwester Cerasa.“ Sie deutete auf ihren Zwilling.
Nun ging alles ganz schnell. Die Prinzessin hob ein Stöckchen vom Boden auf und kratzte damit einen Stern in den weichen Waldboden. Auf die Zacken legte sie die Blätter von Linde, Birke, Eiche, Zypresse und Kirsche. Pruna hatte sich wieder in einen Baum verwandelt, damit die Prinzessin ein Blatt abpflücken kannte. Cerasa aber blieb in ihrer menschlichen Gestalt und sah ihr aufmerksam dabei zu. Obwohl auch sie natürlich festgewachsen war, konnte sie Leonora mit Ratschlägen unterstützen. Das war auch gut so, denn Leonora hatte den Spruch vergessen.
„Aus Finsternis wird Sonnenschein, gebrochen soll der Zauber sein“, sagte Pruna ihr vor. „Und vorher drei Mal in die Hände klatschen.“
Das tat Prinzessin Leonora und wiederholte feierlich: „Aus Finsternis wird Sonnenschein, gebrochen soll der Zauber sein!“
Ein lautes PUFF erklang und bunter Rauch waberte durch den Wald. Pruna und Cerasa jubelten, nun beide wieder in ihrer menschlichen Gestalt und ohne Wurzeln an den Füßen. Sofort machten sie sich auf zum Schloss. „Dort treffen wir uns mit den anderen und vertreiben mit unserer gemeinsamen Magie den Zauberer“, versprachen sie.
Heldin auf ganzer Linie
Erst als Leonora wieder ganz alleine im Wald stand, merkte sie, dass die Geschichte ja noch gar nicht zu Ende war. Was war jetzt mit dem Prinzen? Sie entschied, einfach zum Schloss zurück zu gehen und nachzuschauen, was dort wohl jetzt los war.
Auf dem Weg dorthin kam sie durch ein kleines Dorf. Dort traf sie auf einen Bauernjungen. Er hatte schwarze Haare, aber eine blonde Strähne fiel in seine Stirn. Der Prinzessin kam er merkwürdig bekannt vor.
„Danke, dass du mich erlöst hast!“, sagte der Junge.
„Habe ich das?“, fragte Leonora überrascht.
„Du hast doch die Baumfeen befreit, die jetzt gerade den bösen Zauberer vertrieben haben?“, vergewisserte er sich.
Die Prinzessin nickte.
„Dabei hast du auch alle anderen erlöst“, erklärte der Junge. „Den König und die Königin, die der Zauberer in Schwäne verwandelt hatte. Den Prinzen, der ein Frosch war. Und halt auch mich. Als er hier ankam, sollte ich dem Zauberer das Tor zum Schloss öffnen. Ich habe ihm gesagt, dass er gefälligst klingeln soll wie alle anderen Besucher auch. Daraufhin hat er mich aus Ärger in einen Kater verwandelt. – Ach, sag mal: Das Wurstbrot, hast du das zufällig noch?“
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Alle Bewohner des Lenorenwaldes waren sehr glücklich, dass die Dinge nun wieder wie früher waren. Der König und die Königin luden Prinzessin Leonora in ihr Schloss ein und empfingen sie mit allen Ehren. Zu gerne hätten sie ihr auch die Hand ihres Sohnes gegeben. Wie sich jedoch herausstellte, war der Prinz auch in seiner menschlichen Gestalt nicht der Hellste, ziemlich langweilig und wehleidig und auch kein bisschen in Leonora verliebt. Stattdessen verbrachte die Prinzessin viel Zeit mit den Baumfeen und lernte viel über sie und ihre Magie. Später heiratete sie den Bauernjungen. Sie zogen auf den Leonorenhof, hatten viele Pferde, Schafe und Katzen und führten ein sehr glückliches Leben. Heute erinnert sich kaum noch jemand an ihre Geschichte. Trotzdem nennen viele Menschen den Lenorenwald immer noch manchmal Leonorenwald.
Transparenz-Hinweis: Dieses Märchen ist absolut fiktional. Die örtlichen Gegebenheiten haben mich – ohne jedes Wissen über die tatsächlichen Hintergründe – zu der Geschichte inspiriert. In Wirklichkeit wohnt mit ziemlicher Sicherheit weder ein böser Zauberer noch ein langweiliger Prinz in Schloss Kalkhorst.
Wer die genaue Wegbeschreibung zum Nachwandern möchte, findet sie in unserem Naturzeit-Reiseführer „Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommern mit Kindern: 55 Wander- und Entdeckertouren zwischen Wismar, Rügen und Usedom“.* (Der Link führt zu Amazon und beschert mir im Kauf-Fall eine kleine Provision. Natürlich lässt sich das Buch auch über jede „anständige“ Buchhandlung bestellen.)
Was für eine süße Geschichte! Als meine Kinder kleiner waren, haben wir es auch geliebt, uns beim Wandern Märchen auszudenken. Deinen Reiseführer kenne ich ja – danke nochmals!
Liebe Grüße von Sanne
Danke schön! Ich finde, es ist eine tolle Art, Kindern beim Wandern die Zeit zu vertreiben. Ich freue mich schon, wenn Franka groß genug ist, um sich wirklich dafür zu interessieren.
wunderbar! Hast du noch mehr solche Geschichten?
Leider keine weiteren aufgeschrieben. Aber viele im Kopf. :)