Ein Tagesausflug auf die Orkneys? Natürlich ist es besser, sich für die Inselgruppe im äußersten Norden Schottlands ausreichend Zeit zu nehmen und all die prähistorischen Stätten von Weltrang in Ruhe zu erkunden. Immerhin warten hier Britanniens wahrscheinlich ältester Steinkreis und der Beweis, dass das Billy-Regal schon in der Steinzeit seine Vorläufer hatte. Wenn man aber zeitlich gebunden ist – zum Beispiel, weil man als Tourist auf Kreuzfahrt seine Mitfahrgelegenheit Richtung Nordpol nicht verpassen darf – kann man dem Zauber der Orkneys durchaus auch an einem einzigen Tag erliegen. Unsere (fast) gelungene Patentlösung für einen individuellen Landausflug von Kirkwall aus, um die Orkney-Inseln an einem Tag zu erleben.
Natürlich bieten Aida und Co. überall fertig geschnürte Ausflugspakete, die man nur noch bezahlen muss. Orkney-Inseln an einem Tag: Alle Mann rein in den Bus, Panoramafahrt, jetzt Fotostopp, jetzt Kaffeetrinken, jetzt individueller Museumsbesuch, aber nur exakt 30 Minuten, bitte. Für eine solche Massenabfertigung zahlt man dann als vierköpfige Familie auch noch richtig Geld. Der Ausflug, der uns interessiert hätte – die beiden Steinkreise Ring of Brodgar und Stones of Stenness sowie die Besichtigung des berühmten Steinzeit-Dorfes Skara Brae – hätte uns 192 Euro gekostet.
Unsere Lösung: Landgang auf eigene Faust. Schon von zu Hause aus haben wir einen Mietwagen reserviert. Kosten: 40 Pfund, umgerechnet etwa 56 Euro. Der Kreuzfahrt-Anleger befindet sich etwas außerhalb von Kirkwall, der Inselhauptstadt. In der Hoffnung auf zahlungskräftige Kundschaft stellt die Gemeinde einen kostenlosen Shuttlebus ins Zentrum zur Verfügung. (Für andere Kreuzfahrt-Neulinge: Das ist nicht überall so!) Die Filiale der Autovermietung befindet sich fast direkt neben der Bushaltestelle. So ist unser Mietwagen schnell eingesammelt. Die Abenteuerfahrt in die Steinzeit kann beginnen.
Ring of Brodgar: Der Bilderbuch-Steinkreis
Die Orkneys sind nicht groß. Etwa 70 Inseln dümpeln direkt über dem schottischen Festland im Nordatlantik, knapp 20 davon sind bewohnt. Die Hauptinsel heißt konsequent Mainland, und ohne Boot bleibt es auch beim Besuch dieser einen. Die Straßen sind okay, die Sehenswürdigkeiten zuverlässig ausgeschildert.
An der ersten – den Stones of Stenness – fahren wir im ersten Anlauf vorbei, weil die Insel noch kleiner ist als wir dachten: Huch, wir sind schon da! Na, macht nichts, fahren wir halt erst einmal weiter zum Ring of Brodgar. Der ist der zweitgrößte Steinkreis der Britischen Inseln, nach Avebury und noch vor Stonehenge (und wir haben sie alle gesehen, yay).
Wie bei Steinkreisen üblich, ist sich die Wissenschaft beim Alter des Monuments nicht ganz einig. Aber ob das Ding nun 4700 oder „nur“ 4000 Jahre alt ist, macht für den Laien ja eh keinen Unterschied. Die Steinsetzung, die auf einen älteren Henge gesetzt wurde (also einen Graben mit angedeutetem Wall, der einen besonderen, vermutlich „heiligen“ Bereich markiert), gehört damit jedenfalls vergleichsweise zu den jüngeren Steinkreisen. Vielleicht war die Anlage damals das moderne Tüpfelchen auf dem i für die neolithische Metropole, denn eine solche war Mainland Orkney.
Während Verrückte wie ich mit seligem Lächeln von Stein zu Stein schreiten und enthusiastisch unsachgemäße Vermutungen über Ursprung und Zweck der Anlage und ihrer Details anstellen, umrundet der mäßig interessierte Tourist das prähistorische Monument wahrscheinlich in zehn Minuten, macht ein paar Fotos von dem hübschen Arrangement aus stehenden Steinen, Heidelandschaft und dem Meer im Hintergrund, und ist dann bereit zur Weiterfahrt. Wir sehen zwei Aida-Reisegruppen kommen und gehen und sind trotzdem schon nach nur einer Dreiviertelstunde fertig.
Praktische Hinweise für den Ring of Brodgar
Direkt an der Straße befinden sich nur die Behindertenparkplätze. Ein kleines Stückchen weiter ist ein ausreichend großer kostenloser Parkplatz angelegt, an dem sich auch Infotafeln befinden. Von dort aus führt ein kurzer, hübscher Fußweg zum Steinkreis. Zu bestimmten Zeiten werden kostenlose Führungen angeboten, aktuelle Infos gibt es als Download über die Seite von Historic Scotland, die die prähistorischen Monumente verwaltet.
Ness of Brodgar: Der versunkene Tempel gleich neben dem Misthaufen
Nächstes Ziel auf unserer Wunschliste ist der Ness of Brodgar. Wie alles auf den Orkneyinseln ist er gleich nebenan. In den Sommermonaten graben Archäologen mit der Unterstützung vieler Laien einen alten Tempelbezirk aus. (Oder besser gesagt das, was man allzu gern dafür halten möchte. Mit definitiven Aussagen muss sich die Archäologie ja immer zurückhalten, weil einfach keiner der steinzeitlichen Bewohner daran gedacht hat, erklärende Klebezettelchen anzubringen).
Der prähistorische Gebäudekomplex im Hinterhof eines Bauern ist eher durch Zufall entdeckt worden und wird nun nach und nach behutsam freigelegt. Vermutlich handelt es sich um einen nur saisonal zu bestimmten Feiertagen bewohnten Bezirk, der eines Tages vor ungefähr 4.300 Jahren nach einem gigantischen rituellen Abschiedsfest verlassen wurde. Zu den erstaunlichen Funden gehört der größte Müllhaufen der Frühgeschichte, auf dem die Übrigbleibsel der Zeremonien entsorgt wurden.
Von Anfang Juli bis Ende August dauern die Arbeiten, und während dieser Zeit gibt es jeden Tag kostenlose Führungen. Ich habe extra per Mail angefragt, ob das auch für Tage gilt, an denen die Insel von Kreuzfahrt-Touristen überrollt wird. Klar, hieß es, die fahren eh nur im Bus dran vorbei. Höchstens eine Handvoll schaffe es individuell aufs Grabungsgelände.
Die Tuchfühlung mit der „ganz echten Archäologie“ sollte einer meiner persönlichen Höhepunkte dieser Reise werden. Leider kommt es anders. Das Wetter ist mittlerweile so fies, dass man es nicht mal mehr britisch schimpfen kann. Winzige Hagelkörnchen pfeifen uns um die Ohren, kommen waagerecht herangefegt und schlagen uns ins Gesicht. Unter solchen Umständen hat niemand Lust, uns sensible Uralt-Funde zu erklären und sie dabei der Witterung preiszugeben.
Verständlich, aber für mich sehr traurig, habe ich der Ausgrabung zuliebe doch schon darauf verzichtet, eine Besichtigung von Maes Howe zu arrangieren. Der Grabhügel zählt mit seinem Alter von 4800 Jahren nicht zu den ältesten Exemplaren, ist aber berühmt für seine perfekte Ausarbeitung des Kuppeldachs und außerdem für die Runen-Graffiti aus der Wikingerzeit.
Praktische Hinweise für Ness of Brodgar und Maes Howe:
Ness of Brodgar: Kostenlose öffentliche Führungen gibt es – wenn die Witterung es erlaubt – von Juli bis August mehrmals täglich. Die genauen Zeiten werden vor Beginn der Saison auf der Webseite des Ness of Brodgar Trust bekannt gegeben. Dort erfährt man generell mehr zu dem auf Spenden angewiesenen Projekt – z.B. auch, wie man als Laie eine Runde mitgraben darf.
Maes Howe: Um die Belastung des Bauwerks gering zu halten, ist die Besucheranzahl streng limitiert. Karten werden nur nach telefonischer Vorbestellung vergeben und kosten 5,50 Pfund pro Erwachsenem, Kinder sind etwas günstiger. Detaillierte Infos für die Besichtigung von Maes Howe gibt es hier (auf Englisch).
Standing Stones of Stenness: Ein besonders alter Steinkreis
Kommt man vom Ring of Brodgar und hat Stonehenge im Hinterkopf, sind die Standing Stones of Stenness nicht besonders imposant. Vier Stück stehen noch, und die sind immerhin bis zu fünf Meter hoch.
Das Besondere an dieser Anlage ist aber nicht ihr Erscheinungsbild, sondern das Alter. Auf gut 5100 Jahre schätzen Wissenschaftler dieses. Klar, für uns Laien ist das nur eine weitere Zahl, aber wir können auf unserer persönlichen Checkliste ein neues Häkchen machen:
Da das Wetter immer noch ausgesprochen unfreundlich zu uns ist, beschränkt sich unser Besuch auf nur einen Moment. Ein kurzer Fußweg führt zu den Resten einer prähistorischen Wohnstätte namens Barnhouse. Dass wir nicht einmal kurz hingucken, zeigt, wie fies Hagel und Regen gewütet haben.
Praktische Hinweise für die Standing Stones of Stenness
Der Ort ist frei zugänglich. Ein kleiner Parkplatz befindet sich direkt vor dem Monument. Es soll auch einen hübschen Fußweg vom Ring of Brodgar her geben, der etwas mehr als einen Kilometer entfernt ist. Auch zum Hügelgrab Maes Howe, einen weiteren guten Kilometer weit weg, soll man schön wandern können. Leider konnten wir das nicht ausprobieren.
Skara Brae: Steinzeitliches Wohnen mit Billy
Man kann sich jetzt streiten, welche in der stattlichen Sammlung der steinzeitlichen Sehenswürdigkeiten Orkneys tatsächlich das Highlight darstellt. In dem, was die Unesco unter dem Terminus „Heart of Neolithic Orkney“ als Weltkulturerbe zusammengefasst hat, gibt es je nach Forschungsinteresse mehrere Anwärter.
Für den prähistorisch mäßig interessierten Touristen jedenfalls ist es sicher Skara Brae, denn hier gibt es am meisten zu gucken. Ein ganzes Dorf liegt hier unter der Erde, und das war schon immer so. Hobbingen auf schottisch, quasi. Damit dieser Text durch noch mehr Länge nicht noch unlesbarer wird, habe ich unseren Erfahrungsbericht hier ausgegliedert: Skara Brae, Orkney-Inseln – Das Steinzeitdorf mit den IKEA-Regalen.
Auf der Suche nach den Bäumen
Leider, leider müssen wir jetzt zusehen, dass wir zurück auf die andere Seite der Insel kommen, um rechtzeitig wieder auf dem Schiff zu sein.
Eine Panoramafahrt über die Ostseite der Insel gönnen wir uns noch. Ich stelle einmal mehr fest, dass ich die Orkney Inseln liebe, auf eine merkwürdige Art, als hätte ich das immer schon getan. Die Jungs spielen „Wer den nächsten Baum sieht, hat gewonnen“. Die erste Runde dauert eine Viertelstunde. Ich will immer sagen: „Als ich das letzte Mal hier war, gab es noch viel mehr Bäume.“ Das ist ausgemachter Blödsinn, denn ich war noch nie hier (und wenn doch, muss das spätestens in der Wikingerzeit der Fall gewesen sein, denn damals verschwanden die letzten ohnehin nicht großen Waldgebiete auf Orkney, hab ich im Nachhinein recherchiert).
Immer wieder halten wir kurz an, um die karge Schönheit der Landschaft auf uns einwirken zu lassen.
In Kirkwall geben wir unseren Mietwagen ab und erwischen bequem den vorletzten Bus zurück zum Hafen. Nur für die kleine Stadt selbst bleibt leider überhaupt keine Zeit mehr.
Fazit: Lust auf mehr!
Ich sage es an vielen Orten, und mir schwant, dass sich längst nicht alle dieser Wünsche erfüllen lassen. Aber wir kommen wieder! Liebes Orkney: Mit uns beiden, das ist was Besonderes. Es hat gefunkt zwischen uns. Du bist die ideale Kombination aus Skandinavien und Großbritannien, und gerade mir als Frühzeit-Fan hast du noch so einiges zu bieten, das wir nicht gesehen haben. Da muss noch mehr drin sein als ein einziger Tag!
Mehr individuelle Landgänge auf Kreuzfahrt
Da unsere Nordland-Kreuzfahrt der Endpunkt unserer 11-monatigen Langzeitreise durch Europa war, ist zu jener Zeit jede Menge Material auf mich eingeprasselt, und ich habe es nicht geschafft, zu jeder einzelnen Station etwas zu schreiben. Aber ein paar unserer Landgänge habe ich doch dokumentiert und mit Tipps zum Nachmachen versehen.
- Island individuell an einem Tag: Der Golden Circle
- Isafjördur: Landgang in Islands abgelegenster Stadt
- Alesund mit Kindern: Erdbeer-Häuser und Engel-Besuch
Und die Zusammenfassung unserer allerersten (und bisher auch letzten) Kreuzfahrt:
Erklärungsversuch: Warum family4travel plötzlich über Kreuzfahrten berichtet
Mehr über unsere Reise durch Europa
Über unsere 11-monatige Reise habe ich ein ganzes Buch geschrieben: „Die Entdeckung Europas“. Im Gegensatz zum Blog stehen dort die persönlichen Begegnungen und das „gefühlte Reisen“ während unserer Langzeitreise mit Familie im Mittelpunkt. Auch unsere Nordland-Kreuzfahrt hat darin ein eigenes Kapitel.
Mehr über Schottland mit Kindern
Eine Übersicht über alles, was ich bisher über das Reisen in Schottland mit Kindern geschrieben habe (über 30 Artikel), steht hier:
Worüber haben Sie den Mietwagen gebucht, denn die Route hört sich traumhaft an?
Orkney Car Hire hießen die, sagt Martin. Das sind bestimmt die einzigen. :) Wir haben gegoogelt und dann direkt gebucht, für insgesamt 40 Pfund.