Heute wollen wir die nähere Umgebung erkunden. Toria und Brian haben uns einige Tipps gegeben. Große Sehenswürdigkeiten gibt es nicht, hier im Landesinneren. Die Küste sollte man sich ansehen, sagt Toria, zumindest wollen da auch immer viele Urlauber hin. Zunächst aber wollen wir das nächste Städtchen besichtigen, Llandysul.
Hier stellen wir fest, dass Wales tatsächlich ein ganz anderes Land als England ist. Von Bangor haben wir nicht viel gesehen, und unsere Couchsurfing-Gastgeber waren selbst erst vor kurzem in die Gegend gezogen. Hier in der schäbigen, unaufgeregt ehrlichen Kleinstadt fühlen wir uns zum ersten Mal auf unserer Reise wirklich weit von zu Hause entfernt.
Keine Spur von aufgeräumt englischen Vorgärten und hübschen Ladenfassaden. Hier sieht es so aus wie wir uns Osteuropa vorstellten, bevor wir Polen und die baltischen Staaten bereisten. Die Häuser wirken grau und heruntergekommen, dreckig und vernachlässigt.
Viele der Läden scheinen geschlossen zu sein, vollgestellt mit Pappkartons. Dann aber merken wir, dass es sich dabei einfach um die übliche Ladeneinrichtung handelt.
Irrwitzig mutet auch die Mischung der Geschäftszweige an. Ein Teppichleger wirbt in seinem Schaufenster auch für Schlüsselservice und Urnenbegräbnisse.
Wir kehren in dem italienischen Café ein, das Toria uns empfohlen hat. Wirklich überwältigend ist das Ambiente hier auch nicht, aber die Milchshakes sind lecker.
Die meisten Menschen um uns herum sprechen Walisisch. Auch das war mir nicht klar: Die alte keltische Sprache wird keineswegs nur aus political correctness hochgehalten. Sie lebt tatsächlich noch. Schon in Bangor auf der Seebrücke haben wir Mütter mit ihren Kindern walisisch sprechen gehört.
Dann schlendern wir zum Fluss. Seit grauer Vorzeit schlägt der hier Kapriolen und hat das umliegende Gestein bizarr geformt. Wildwasserfahrten mit dem Kajak sind hier groß im Kommen. Wären die Kinder etwas älter, hätten wir es ausprobiert, denn direkt neben der Brücke bietet „Llandysul Paddlers“ Tagestouren für Anfänger und Fortgeschrittene an. So aber beschränken wir uns auf eine kleine Expedition entlang der Stromschnellen.
Wir überqueren den Fluss und sehen mehr graue Kleinstadt. Wie eine Oase in der Ödnis erscheint uns da das Halfmoon Inn, das mit leuchtend roten Tafeln wirbt. Wir haben kein Picknick dabei, und unsere Mägen knurren. „Familien willkommen“, sagt das Schild. Wir lassen uns nicht lange bitten und treten ein.
Mit dem großgemusterten Teppichboden und der elektrisch betriebenen Kamin-Attrappe wirkt die Gaststätte umwerfend britisch auf uns.
Der Wirt eher nicht. Die lockigen schwarzen Haare fallen ihm bis auf die Schulter. Der untersetzte kleine Mann in den Vierzigern repariert gerade mitten in der Gaststube ein Kinderfahrrad. In einer Ecke haben zwei kleine Mädchen ihre Barbie-Puppen ausgebreitet. Andere Gäste sind nicht zu sehen.
„Haben Sie geöffnet?“ frage ich vorsichtig.
„Aber ja!“ sagt der Wirt und strahlt uns an. „Kommen Sie rein, kommen Sie rein!“ Mit großer Geste komplimentiert er uns in die Gaststube, scheucht dabei gleichzeitig die Mädchen und ihre Puppen aus dem Zimmer und lässt das Fahrrad hinter einem Vorhang verschwinden. „Suchen Sie sich einen Tisch aus! Ich bringe Ihnen die Karten.“
Bisher haben wir in England und Schottland einen großen Bogen um Restaurants gemacht, haben uns stattdessen auf Tee und Kuchen in tea rooms beschränkt. Zu abschreckend wirkten schon die Preise der „Sonderangebote“ auf uns, mit denen die Gastronomie uns locken wollte.
Die Mittagskarte des Halfmoon Inn aber ist wahrhaft günstig. Und auch die Kinder haben eine Auswahl, die über die Frage hinausgeht, ob sie ihre Chicken Nuggets und Pommes mit Mayo oder Ketchup wollen.
Stolz wie Oskar bringt das ältere der beiden Mädchen uns Servietten und Besteck. Es ist sehr gründlich eingerollt und eindeutig ihr eigenes Werk. Wir sind entzückt (wenn es uns Tage später auch vor die Aufgabe stellt, Silas beim Thema Kinderarbeit die Überzeugung auszureden, dass in Wales noch heute kleine Kinder als Zwangsarbeiter ausgenutzt werden).
Große kulinarische Offenbarungen erwarten wir nicht, werden aber positiv überrascht. Gutbürgerliche Küche landet auf unseren Tellern, und entgegen unserer Befürchtungen kommt nicht alles direkt aus der Friteuse.
Die Jungs vertreiben sich die Wartezeit mit den bereitstehenden Gesellschaftsspielen. Wir gönnen uns einen Nachtisch (treacle tart), der unglaublich lecker schmeckt. Ich sage das der Frau um die 30, die unser Geschirr abräumt. „Danke“, sagt sie bescheiden und lächelt dazu auf eine Art und Weise, die mich nachfragen lässt, ob sie es war, die ihn gemacht hat. Sie bejaht.
„Tagsüber sind das nur wir zwei. Ich mach die Küche, mein Mann kümmert sich um die Gäste.“ Dass sie heute abräumt, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass sie die exotischen Fremden auch mal besichtigen will, die heute in ihrer Gaststube gelandet sind.
Wir kommen ins Gespräch, auch der Wirt schließt sich uns an. Wir erzählen von unserer Reise, und das Ehepaar seufzt auf. „Ich würd den Mädchen gerne mal Brasilien zeigen. Das ist mein Traum“, verrät der Vater. Ob er aus Südamerika stammt, frage ich. Nein, er kommt aus Jersey, erzählt er mir, aber seine Eltern stammen aus Portugal. In Wales ist er der Liebe wegen gelandet, sagt er mit einem Lächeln zu seiner Frau. Sonst gäbe es wohl auch nur wenig Grund dazu, hier sesshaft zu werden, murmelt die mit bitterem Unterton.
Wer kann, geht weg, erzählen uns die beiden. Hier gibt es keine Jobs. Wales eigne sich prima als Rückzugsort für Menschen mit Geld oder solche, die keine Menschenseele sehen wollen, aber für niemanden, der zur Miete wohnen, einkaufen und arbeiten wolle. Die Infrastruktur bröckele weg, es gebe beispielsweise kaum noch Tankstellen. Der Supermarkt im Ort sei der einzige in weitem Umkreis. „Die Regierung versucht einiges, um die Leute bei der Stange zu halten“, berichtet der Wirt. Busfahrten seien beispielsweise für die Passagiere kostenlos – was aber wenig nütze, da es trotzdem zu wenig Bedarf gebe, um einen regelmäßigen Fahrplan zu gewährleisten.
„Dann dieser Wahnsinn mit der walisischen Sprache“, schimpft er. „Meine Kinder sprechen Englisch und Portugiesisch, und wenn man sich die Weltkarte ansieht, möchte man meinen, dass ihnen das eines Tages etwas nützen kann. Aber was lernen sie in der Schule? Walisisch! Das sie niemals brauchen werden, weil sie hier sowieso keinen Job finden.“
So gehe es vielen jungen Leuten, die nach der Schule einen Job in England suchten. Sei seien im Nachteil, weil sie Englisch in der Schule wie eine Fremdsprache gelernt haben – „Zwei Stunden die Woche, der Rest des Unterrichts, alle anderen Fächer finden auf Walisisch statt“, wettert der Südeuropäer. Die meisten Familien verließen Wales darum spätestens, wenn ihre Kinder die Grundschule hinter sich haben.
„Bald müssen wir uns diese Frage auch stellen“, sagt er mit zerknirschtem Blick zu seiner Frau.
Das erinnert uns daran, dass wir doch auch mal Kinder hatten. Wo sind die abgeblieben? Das Gnickern aus dem Nebenraum erspart uns die Suche: Da sitzen sie neben den Wirtsmädchen und schauen Trickfilme.
„Sind die auch auf Walisisch?“ frage ich die Kinder.
„Nee“, sagt die Kleine. „Es gibt welche, aber die sind grottenschlecht. Die englischen sind viel, viel besser.“
Schweren Herzens eisen sich die Jungs vom Bildschirm los, denn wir wollen weiter. Der Vormittag war super interessant, aber wir wollen noch ein bisschen mehr von dieser Gegend sehen.
Dieser Beitrag basiert auf Eintragungen meines Reise-Tagebuchs vom 27. August 2013.
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