Zehn Monate lang sind wir kreuz und quer durch Europa gekurvt, haben einen wahnsinnig intensiven Mega-Familien-Roadtrip hingelegt. 19 Länder, 86 Übernachtungsstopps, 112 Städte jeder Größe. Und ganz fertig sind wir immer noch nicht, denn nach einem kurzen Zwischenstopp in der Heimat geht es gleich wieder weiter. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht. Heute, kaum mehr als 24 Stunden nach unserer ersten Heimkehr nach zehn Monaten Abwesenheit, möchte ich aufschreiben, wie sich das Nachhausekommen in diesem Moment für mich anfühlt.

Martin drückt aufs Gas. Es ist lange her, dass wir zuletzt 150 km/h gefahren sind. Normalerweise verkneifen wir uns das allein schon aus Verbrauchsgründen. Aber heute haben wir es eilig. Dort, wo unser Navi Elise das Zielfähnchen anzeigt, warten an diesem Tag zur Abwechslung kein Vermieter und auch keine Couchsurfing-Familie, sondern Oma, Opa, Tante, Onkel und Urgroßmutter.

Schon die letzte Nacht unserer Roadtrip-Reise haben wir in Deutschland verbracht: In Trier, kurz hinter der Grenze. Wir haben die Gelegenheit genutzt, eine alte Freundin zu besuchen, die einen Sohn in Janis’ Alter hat. So haben wir es am Tag der Heimreise nicht so furchtbar weit und kommen zu einer Uhrzeit an, die dem Empfangskomitee genehm ist. Am Morgen, bevor wir zum vorerst letzten Mal zur Weiterreise ins Auto steigen, moniert ausgerechnet Silas, der immer den größten Stalldrang bekundet hat: „Müssen wir wirklich schon heute weiter? Können wir nicht noch ein, zwei Tage hier bleiben?“ Es sind immer die lieben Menschen, die uns das Weiterfahren schwer machen. Aber heute wissen wir genau, dass auch am anderen Ende der Fahrstrecke liebe Menschen auf uns warten.

beitragsfoto

Authentisches Foto durch patinierte Windschutzscheibe: Da sind wir wieder.

Die Straßen sind frei, und Elise korrigiert unsere Ankunftszeit beständig nach vorne. Die Geschwindigkeit drückt mich in den Beifahrersitz und ich habe das Gefühl, kaum dazu zu kommen, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich freue mich auf meine Familie, natürlich. Meine Eltern haben uns zwar im Januar in der Türkei besucht, und auch im Mai in Lissabon haben wir sie noch einmal kurz getroffen. Meine Schwester habe ich zwischendurch nicht gesehen, und Telefonate über Skype sind einfach kein wahrer Ersatz für echte Gespräche. Ich freue mich auch auf meine schöne Wohnung, in der die Dinge funktionieren, wie sie sollen. Wo das Wasser am Wasserhahn wirklich nur aus der dafür vorgesehenen Öffnung läuft, wo die Dusche ihre einmal eingestellte Temperatur beibehält und ich benutztes Geschirr sorglos in die Spülmaschine räume. Aber so richtig Lust auf Alltag habe ich nicht. Es geht mir jetzt doch alles zu schnell. Ich fühle mich wie damals, als ich mit dem ersten Kind in den Wehen lag: Ich hab mir das so ausgesucht, alles dafür vorbereitet und es gibt jetzt auch kein Zurück mehr – aber irgendwie würde ich in diesem Augenblick doch ganz gerne einen Rückzieher machen.

Dann rauscht auch schon das Ortsschild an uns vorbei. Die Jungs auf der Rückbank vibrieren vor Aufregung. Am Straßenrand vor unserer Einfahrt hüpft Oma auf und ab und winkt wie verrückt. Tante Gesa und Omama stehen ebenfalls da und begrüßen uns jubelnd. Das Auto rollt an seinen alten Stammplatz unterm Carport, über dem ein Bettlaken mit dem bunten Schriftzug „Herzlich Willkommen!“ weht. Es folgt ein großes Hallo, bei dem sich alle in die Arme fallen, gleichzeitig auf einander einreden und Größenvergleiche mit den in die Höhe geschossenen Kindern anstellen. Alles ist genau so, wie sich das gehört.

Wiedersehensfreude.

Wiedersehensfreude.

Die Wiedersehensfreude geht unverhofft in eine Bescherung über, denn in unserer Abwesenheit hat meine Mutter unsere Geburtstagsgeschenke fein säuberlich auf unserem Esszimmertisch gestapelt. Im Garten ist die Kaffeetafel gedeckt, und ein Champagnerkorken knallt (schließlich lag unser vorletzter Zwischenstopp in der Champagne). Die Jungs wühlen selig in ihren Playmobil-Kisten, und wir geben den ersten Sack voll Reisegeschichten zum Besten. Abends zaubert Oma ein Festessen, und es ist spät, als wir endlich wieder einmal in unsere eigenen Betten fallen.

Der nächste Tag beginnt mit einem Geburtstagsfrühstück für Janis, der elf Jahre alt wird. Es war sein Wunsch, zu seinem Geburtstag wieder zu Hause zu sein. Wir feiern nicht groß, aber er ist zufrieden. Für Martin und mich fängt dann das erste bisschen Alltag an: Wäsche waschen, Internet rekonfigurieren, Sommerreifen aufziehen, Post sortieren, noch mehr Wäsche. Zwischendurch gehe ich im Haus herum und fühle mich komisch. Da sind so viele Kleinigkeiten, an die ich mich gar nicht erinnere. Wo kommt zum Beispiel diese hübsche Dose her? Nach kurzem Nachdenken erinnere ich mich: Ich habe sie selbst gekauft, ein paar Wochen vor unserer Abreise. Als ich bei meinen Eltern ins Bad komme, bin ich einen Moment lang ernsthaft verwirrt, denn es sieht völlig anders aus, als ich erwartet hatte. Nach einigen Sekundenbruchteilen fällt mir wieder ein, dass sie den Raum renoviert haben, schon vor zwei oder drei Jahren, kurz nachdem wir oben umgebaut haben und eingezogen sind. Anscheinend ist mein Hirn mit zunehmendem zeitlichen Abstand wieder zu der Erinnerung zurückgekehrt, die es am besten kennt, nämlich aus den 25 Jahren davor, die ich dieses Badezimmer täglich benutzt habe.

Am Nachmittag nehmen Martin und ich die Fahrräder und fahren kurz zum Aldi, weil wir uns das Sonderposten-Tablet ansehen wollen (kurz vor dem Ziel hat bei uns irgendwie sämtliche Elektronik den Geist aufgegeben). Ein riesiger Rohbau versperrt uns den gewohnten Blick auf die alten Stiftsmauern. Richtig, hier wollten sie ja ein Altenheim hinzimmern. Als wir abfuhren, wurde hier gerade der Minigolfplatz demontiert, und die alte Kneipe stand noch. Der Supermarkt sieht aus wie immer, und wie überall in Europa. Es ist der Ort, an dem ich mich heute auf Anhieb am zuhausesten fühle. Witzig: In Rumänien sind wir mit den Kindern in bekannte Discounter Einkaufen gefahren, wenn sie Heimweh hatten. Jetzt hilft mir dieselbe Masche andersrum. Ich sehe mir die Menschen an. Es sind wohl alle meine Mitbürger in dieser ziemlich kleinen Kleinstadt, aber niemand kommt mir bekannt vor. Niemand sagt: „Mensch Lena! Seid ihr wieder zu Hause!“ Ich bin erleichtert, denn ich habe ja noch so viel zu tun. Aber es kommt mir doch auch nicht ganz richtig vor.

Silas darf drücken. Es geht nach Hause!

Silas darf drücken. Es geht nach Hause!

Als ich mich wieder an die Pappkiste setze, in die meine Mutter unsere Post gelegt hat, finde ich darin auch einen Zeitungsartikel aus dem Mai. „Das Trauma der Rückkehrer“. In der Wochenend-Beilage des Madsack-Verlags, auf die auch die Schaumburger Nachrichten zurückgreifen, schreibt Stefanie Järkel: „Eine Auszeit fühlt sich leicht und frei an. Der Weg zurück in die Wirklichkeit ist oft umso schwieriger.“ Ich lese den Bericht mit hochgezogenen Augenbrauen. Es geht hauptsächlich um das Szenario des jugendlichen Backpackers, der sich nach einem halben Jahr Sabbatical wieder in die Arbeitswelt einfinden muss und in Sachen gesellschaftlichen Konventionen aneckt. Mit meinem Gefühl der Entfremdung hat das nicht viel zu tun. Aber es zeigt mir: Dass ich mir im Moment ein bisschen verloren vorkomme, ist wohl nicht weiter ungewöhnlich.

Ich schätze, dass ich nach kurzer Zeit wieder ganz automatisch in mein altes Leben zurückschnippe wie ein überdehntes Gummiband. Bestimmt dauert es nicht lange, und es ist nicht mein Alltag, der mir wie ein Traum vorkommt, sondern die Reise. Stefanie Järkel kennt „das starke Bedürfnis (…), sich gleich in die nächste Reise zu flüchten“. Zum Glück können wir genau das tun. Für mich sind wir gerade auf Heimaturlaub, und in ein paar Tagen geht es schon wieder los. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich in der Zwischenzeit zum Bloggen kommen werde. Auf lange Sicht wird es jedenfalls noch etliche Reiseberichte geben von all den Zielen, die hier reihenweise unter den Tisch gefallen sind. Und wie beschwerlich der Weg zurück in die Wirklichkeit tatsächlich wird, verrate ich dann auch gerne.

Übrigens: Der eine kommt, der andere geht – Gerade wo wir (fast) damit fertig sind, hat sich Thor Braarvig just mit Frau und vier Kindern auf den Weg gemacht, um ebenfalls Europa und wahrscheinlich die ganze Welt zu erkunden. Ich bin gespannt, ob es ihm in seinem Blog Sechs Paar Schuhe gelingt, regelmäßiger von seinen Abenteuern zu berichten als ich! :)