New Lanark ist eine alte Arbeitersiedlung, die sich um eine frühindustrielle Baumwollspinnerei gruppiert. Gleichzeitig ist es eine Utopie, eine Art soziologischer Feldversuch zur Verbesserung der Welt. Hier hat Robert Owen gewirkt, ein Mann, von dem wir nie zuvor gehört hatten und der uns alle vier doch nachhaltig beeindruckt hat.
Die Jugendherberge von New Lanark
Eigentlich haben wir diesen Ort mal wieder nur gefunden, weil er auf der Karte der SYHA-Hostels eingezeichnet ist. Direkt in den historischen Gemäuern der alten Baumwollspinnerei befindet sich eine Jugendherberge. Wo früher Arbeiter wohnten, haben wir für zwei Nächte ein Familienzimmer gebucht.
Wir wollten in die Nähe von Edinburgh, aber richtig rein die große Stadt wollten wir nicht. Die Siedlung befindet sich ganz im Süden von Schottland, etwa auf der Hälfte zwischen Edinburgh und Glasgow.
Das Schöne an allen schottischen Jugendherbergen ist die Selbstversorgerküche, so dass wir nicht nur günstig schlafen, sondern auch günstig essen können.
New Lanark Freilichtmuseum für Familien
ABSOLUT empfehlenswert ist ein Besuch im Freilichtmuseum, dessen Eingang sich nur wenige Meter weiter befindet. Mit 24,50 Pfund gilt das Familienticket für britische Verhältnisse als Schnäppchen. Und sie sind gut angelegt. Aber von vorne.
Wir haben heute Gesellschaft von Linn-Marit, ihrem Mann Tony und ihrer Tochter Catriona. Keine Couchsurfer diesmal, sondern eine Brieffreundin aus Jugendzeiten. Da wir uns noch nie getroffen haben und uns (abgesehen von Weihnachtskarten und gelegentlichen Kurzmitteilungen über facebook) schon lange nicht mehr schreiben, ist der Unterschied marginal.
Janis und Catriona sind fast gleich alt, und nachdem die junge Schottin die Überraschung überwunden hat, dass unsere Jungs kaum Englisch sprechen, kommen die drei bestens zurecht. Linn-Marit und ich quatschen über alte Zeiten, frischen unser Wissen über einander auf (nein, ich bin kein D.J.Bobo-Fan mehr; ja, ich verdiene mein Geld tatsächlich mit dem Schreiben, wie ich das immer vorgehabt habe, wenn wir über die Höhe dieses Einkommens auch lieber den Mantel des Schweigens decken; und nein, zur Antarktis-Forscherin hat es leider doch nie gereicht).
Catriona zieht uns unterdessen zur „Annie McLeod Experience“. Sie ist schon zwei Mal hier gewesen, mit ihren Eltern und mit der Schule. Die Fahrt mit der Gondel durch ein Feuerwerk multimedialer Darstellungsformen ist das Beste, sagt die Neunjährige.
Na ja, sie formuliert das natürlich anders. Aber als wir in einem der alten Fabrikgebäude in eine Art Sessellift klettern, der uns zu zweit durch die abgedunkelten Räume schweben lässt, verstehen wir schnell, was sie meint.
Die „Annie McLeod Experience
Janis sitzt neben mir und schaut gebannt in die Welten, die sich uns eröffnen. Aus dem Lautsprecher tönt die Stimme eines kleinen Mädchens – auf Deutsch, da wir dem Mitarbeiter am Eingang unsere Muttersprache genannt haben.
Das Mädchen stellt sich vor als Annie McLeod, gerade zehn Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer Familie lebt und arbeitet sie im New Lanark der 1820er Jahre. Bis vor kurzem ist sie in die Schule gegangen, die Fabrikbesitzer Robert Owen den Arbeiterkindern eingerichtet hat.
Wir biegen um die Ecke und sehen Kinder in merkwürdigen Schuluniformen als Lichtgestalten über die Backsteinwände tanzen. Annie berichtet uns vom Schulalltag, der mich fast ein bisschen an das Waldorf-Konzept erinnert und damals wahnsinnig innovativ gewesen sein muss. Und davon, dass der Manager aus Gründen, die seine Arbeiter nicht recht nachvollziehen können, Kindern unter zehn Jahren nicht erlaubt, in der Spinnerei zu arbeiten.
Seit kurzem aber ist Annie endlich alt genug, um Geld für die Familie zu verdienen. Wir sehen sie, wie sie geisterhaft über eine unsichtbare Leinwand unter einer sehr soliden, sehr wirklichen Spinnmaschine des frühindustriellen Zeitalters umher krabbelt. Die jungen Mädchen wurden gern als „Anknüpferinnen“ eingesetzt, erzählt Annie: Wenn der Faden riss, fisselten sie ihn wieder zusammen und fegten dabei gleichzeitig die Flusen unter der Maschine auf. „Aber wir müssen schnell sein, denn die Motoren halten für niemanden an.“
Immer wieder kam es in solchen Fabriken zu schrecklichen Unfällen. Auch Owen konnte das nicht ganz verhindern, aber er kam auf die nie dagewesene Idee, einen kleinen Teil des Arbeitslohns einzubehalten und davon im Krankheitsfall die Behandlungskosten und bei Arbeitsunfähigkeit eine Rente zu zahlen. Überhaupt sorgte er dafür, dass in der kleinen, zu Blütezeiten 2100 Seelen fassenden Arbeitersiedlung ein Arzt ansässig wurde. Die Arbeiter erhielten Wertmarken, mit denen sie im betriebseigenen Laden verbilligte Lebensmittel kaufen konnten, und Owen kümmerte sich um eine Verbesserung der hygienischen Zustände. Außerdem schaffte er die Prügelstrafe ab und führte stattdessen ein findiges System der „Qualitätssicherung“ ein, das auf sozialer Kontrolle beruhte.
Glück gehabt: Unsere Führung durch New Lanark
Noch sehr viel mehr als von Annie erfahren wir von einer Mitarbeiterin aus Fleisch und Blut, die uns – da wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und am Ticket-Schalter die kostenlosen Zusatzkarten abgegriffen haben – bei einer geführten Tour das Gelände zeigt.
Sie macht uns auf das riesige Wasserrad aufmerksam, das in der Spinnerei für die nötige Energie sorgte. Auf Dampfmaschinen griff man nur zurück, wenn der Wasserstand des Clyde zu niedrig war. Wasserkraft war viel billiger und in dem kleinen Tal auch entschieden einfacher zu bekommen.
Hochinteressant wird es, als wir mit der Führung eine restaurierte Arbeiterwohnung betreten. Sie ist auf dem Stand der 1820er Jahre – der Zeit, in der Owen in New Lanark wirkte. Ziemlich viele Menschen drängen sich in dem kleinen freigegebenen Bereich der Einzimmerwohnung, um der lebendig berichtenden Frau zuzuhören.
Die Kinder dürfen in dem abgetrennten Teil der Ausstellung am Küchentisch der Familie Platz nehmen. Ich bin ganz gefesselt vom Vortrag der Dame, die von den üblichen Lebensbedingungen armer Fabrikarbeiter zu Beginn des 19. Jahrhunderts erzählt, und wie der Überflieger Owen im zarten Alter von zehn Jahren dieses Elend in den Hinterhöfen Londons sah und weinend beschloss, etwas dagegen zu tun.
Weniger geschichtsinteressierte Besucher beobachten belustigt, wie Silas’ Augen immer kleiner werden, sein Kopf in der stickigen Wärme tiefer sinkt und schließlich auf der Tischplatte aufliegt. Na ja, man kann’s ihm nicht verdenken, er versteht ja nichts und ist von seinen Übersetzern abgeschnitten.
Robert Owens Wohnhaus und Schule
Nach Silas’ Power-Nap besichtigen wir noch das Wohnhaus des Sozial-Pioniers, in dem er trotz leitender Tätigkeit Bescheidenheit vorlebte.
Mittagspause machen wir im hauseigenen Café, das sich preislich und auch vom Angebot her gut dafür eignet.
Weiter geht es in der Schule, wo es einiges auszuprobieren und zu entdecken gibt.
Die Filmvorführung: Geschichte kompakt
Bei einer Filmvorführung bekommen wir Kopfhörer für die deutsche Synchronisation.
Zu recht kitschiger Musik wird auf der Leinwand eigentlich nur noch mal zusammengefasst, was wir alles schon gehört haben. Trotzdem bin ich so ergriffen, dass ich in meiner Handtasche nach den Taschentüchern wühlen muss und mir einen schrägen Blick von den Jungs einfange.
Auf dem Weg nach draußen nimmt mich Silas mit seinen sechs Jahren an die Hand und sagt: „Du, Mama… Wenn’s geht, werde ich auch so etwas machen. Eigentlich habe ich ja den Plan, Wissenschaftler zu werden. Aber wenn es sich einrichten lässt, werde ich lieber ein Robert Owen, der vielen Menschen ihr Leben verbessert. Das ist noch wichtiger, glaube ich.“
Oje, ich hatte meine Taschentücher grade weggepackt…
Extra für Kinder: „interactive gallery“
Jetzt bleibt uns eigentlich nur noch die „interaktive Galerie“, eine Art hübsch gemachter Indoor-Spielplatz, der mit Farben, Formen und Sound-Effekten alle Sinne ansprechen möchte.
Nimmt man es genau, hat dieser Ort eigentlich überhaupt nichts mit der Baumwollspinnerei und der vorbildlichen Arbeitersiedlung zu tun. Aber die drei Kinder haben Spaß, und wir Erwachsenen können noch eine Runde ausführlich Klönen.
„Beim letzten Mal haben wir uns hier viel zu wenig Zeit genommen“, sagt Linn-Marit. „Ich bin überwältigt, wie viel man hier erfahren kann.“
Martin und ich sind ganz baff, was für eine unbekannte Welt sich uns hier eröffnet hat. „Das ist doch ein großartiges Beispiel“, sage ich, „was ein einzelner Mann tatsächlich bewirken kann, wenn er zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, die richtigen Ideen hat und dann auch noch die Ärmel hochkrempelt und sie umsetzt.“
Aus dem Blickwinkel der Geschichte weiß ich natürlich, dass Owen später aus dem Unternehmen gedrängt wurde, sein ganzes Geld in eine scheiternde Utopie in Amerika steckte und schließlich in seinem Geburtsort in Wales verarmt dahinsiechte. Aber das, was er in New Lanark geleistet hat, wirkte als Vorbild inspirierend für ganze Generationen und hat auch heute noch uns alle vier tief berührt.
Praktische Informationen für einen Besuch in New Lanark
Die New Lanark World Heritage Site befindet sich etwa jeweils eine Stunde südlich von Edinburgh, Glasgow und Sterling und ist weiträumig ausgeschildert.
Der Postcode (fürs Navi) lautet ML11 9BY.
Geöffnet ist das Freilichtmuseum täglich von 10 bis 17 Uhr, von November bis März nur bis 16 Uhr.
Ein Familienticket für zwei Erwachsene und zwei Kinder kostet 24,50 Pfund und ist ein ganzes Jahr gültig.
Diesen Eintrag meines Reisetagebuchs habe ich am 18. August 2013 verfasst.
Oh ist das rührend! Das ist doch der Moment, in dem man die Kinder zwischen Lachen und Weinen an sich drücken muss und man sich fragt, was sie wohl wirklich einmal im Leben machen werden.
Zumal wir als Mütter es ja auch – jede einzelne von uns, möchte ich wetten – für hochwahrscheinlich halten, dass gerade aus unserem Nachwuchs tatsächlich etwas herausragend Großartiges wird. :)