Nachdem wir in Avebury den größten aller Steinkreise inklusive Dorf in der Mitte besichtigt und uns in der dazugehörigen Ausstellung schlau gemacht haben, erkunden wir die weiteren prähistorischen Sehenswürdigkeiten.
Die Sehenswürdigkeiten rund um Avebury
Die Organisationen National Trust und English Heritage verwalten das Weltkulturerbe gemeinsam. Auf ihren allgegenwärtigen Info-Tafeln sind in unmittelbarer Umgebung von Avebury noch vier weitere Orte von herausragender Bedeutung für die britischen Frühgeschichte verzeichnet.
Windmill Hill
Da ist Windmill Hill, wo die Geschichte wohl begann: eine frühsteinzeitliche Einfriedung etwa zwei Kilometer von Avebury entfernt. Ihr Alter wird auf 5800 Jahre datiert. Aus dieser Zeit stammen jedenfalls die ältesten Keramikscherben, die bei Ausgrabungen gefunden wurden. Da der Ort – vermutlich als Siedlungssitz – die komplette Steinzeit hindurch und als Begräbnisplatz selbst in der Bronzezeit noch benutzt wurde, haben unser alter Bekannter Alexander Keiller und seine Kollegen hier eine hübsche Geschirrsammlung aus der Erde holen können.
West Kennet Longbarrow
Buchstäblich steinalt ist auch West Kennet Longbarrow, das vor gut 5600 Jahren errichtete Ganggrab. Es diente lange vor der Idee mit den Steinkreisen wohl gut 1000 Jahre lang als Ort für Rituale. Die 46 Menschen aller Altersklassen, die hier beigesetzt wurden, sind allerdings vermutlich alle innerhalb weniger Jahrzehnte gestorben.
The Sanctuary
Vollkommen mysteriös bleibt bis heute The Sanctuary, „das Heiligtum“. Es wurde erst 1930 von Maud Cunnington wieder lokalisiert. Man weiß, dass hier vor rund 5000 Jahren Holzpfähle im Boden steckten, und zwar in der Form sechs konzentrischer Kreise. Knapp tausend Jahre später kamen noch zwei Steinkreise dazu. Im Boden fanden sich große Mengen menschlicher Knochen, was an Begräbnisrituale denken lässt, jedoch auch andere Spuren, die eine dauerhafte Besiedlung von Menschen zumindest für eine gewisse Zeit lang nahelegen. Heute ist von dem steinzeitlichen Bauwerk selbst nichts mehr zu sehen, aber Betonklötze markieren die ehemaligen Standpunkte von Pfählen und Steinen.
Silbury Hill
Ebenfalls immer noch ein Rätsel ist Silbury Hill. Der größte menschengemachte Hügel in Europa entstand vor etwa 4700 Jahren aus Kalkstein und Lehm. Im Laufe mehrerer Bauphasen ist er 40 Meter hoch geworden.
Seit dem 17. Jahrhundert sind immer wieder Versuche von Gelehrten und Neugierigen verbrieft, die wissen wollten, was drin ist in dem Berg. Nicht ganz abwegig, schließlich haben Grabhügel in Großbritannien Tradition, und in Skandinavien hat man ganze Schiffe unter der Erde gefunden. Silbury Hill ist aber – komplett leer. Oder besser gesagt: massiv aufgeschüttet. Das Aufregendste, was (erst 2002) zu Tage kam, war ein wohl als Schaufel genutztes Rentiergeweih.
Die Deutungsversuche laufen darauf hinaus, dass der Hügel als Präsentierteller für irgendwen oder irgendwas diente. Und immerhin gibt es Sichtachsen von hier aus zu allen vier anderen vorzeitlichen Monumenten, die untereinander teilweise auch mit Stein-Alleen verbunden sind.
Seit einem Erdrutsch vor einigen Jahren und kostspieligen Befestigungsmaßnahmen in der Folge darf der Hügel nicht mehr bestiegen werden. Vom Aussichtspunkt am Parkplatz aus werden wir Zeuge davon, wie ernst der gewöhnliche Wiltshire-Tourist das Verbot nimmt. Ein gut ausgetretener Pfad führt auf den Gipfel, und es wimmelt darauf wie von bunten Ameisen.
Unser Erfahrungsbericht
Am Silbury Hill unternehmen wir keinen ausgedehnten Spaziergang. Wir möchten unseren Kindern beibringen, dass man mit prähistorischem Erbe sorgsam umgeht, und verzichten auf die Tour.
Ohnehin haben wir nur noch begrenzt Zeit und müssen uns entscheiden, welche dieser Sehenswürdigkeiten wir uns noch zu Gemüte führen wollen.
Wir wählen den Ort, an dem auch die Jungs am meisten zu gucken haben. Zum West Kennet Longbarrow geht’s nur ein paar hundert Meter die Straße runter. Wir parken kostenlos in der Parkbucht längs der Landstraße.
Kornkreise rund um Avebury
Auf dem kurzen Spaziergang versuchen wir vergeblich, auch einen der berüchtigten Kornkreise zu entdecken. Die meisten sind zu dieser Jahreszeit schon abgemäht, und ohnehin gibt es längst nicht mehr so viele wie vor Jahren, als der Hype darum die Macher anspornte (wie unser Couchsurfing-Gastgeber erzählte, der andeutete, den einen oder anderen von diesen persönlich zu kennen).
„No cropcycling!“ warnt ein Schild am Feldrand unmissverständlich und droht bei Zuwiderhandlung Strafe an. Dass die kunstvollen Gebilde einen überirdischen Ursprung haben, glauben heute nur noch vereinzelte Esoteriker. Nichtsdestotrotz sind im – esoterikerfreundlichen – Andenkenladen von Avebury zahlreiche Bildbände über diese Form der Agrarkunst zu haben.
Das Steinzeitgrab, die Neuheiden und laute Kinder
Die Jungs sind vorgerannt und haben den Hügel des Granggrabs schon erobert. Ich lache, weil sie diese Geste typisch männlichen Instinktverhaltens an den Tag legen: auf die höchste Erhebung steigen, die Arme in die Luft recken und schreien.
„Seit der Steinzeit hat sich gar nicht viel verändert“, sage ich zu Martin.
In diesem Moment kommen zwei aufgebrachte Ladys im mittleren Alter aus dem Grab geklettert.
„No bumping!“ herrscht die Ältere meine Jungs ungehalten an. „This is a sacred place!“ – Kein Gepoltere hier, das ist ein heiliger Ort.
Einen Moment lang habe ich den Impuls, die Jungs zur Ordnung zu rufen und mich für das unangemessene Verhalten meiner Söhne zu entschuldigen. Immerhin haben wir uns doch gerade erst mit einem verantwortungsvollen Umgang mit prähistorischem Erbe gebrüstet. Dann aber setzt mein Denken ein, und außerdem sehe ich, dass einiges an diesem Ort eher typisch 20. Jahrhundert ist: Die Decke ist mit Beton verstärkt, in den Glasbausteine eingelassen sind. Kein Grund zur Sorge, dass die Jungs hier was kaputt machen.
Die Damen sehen das anders. „This is a cemetery! People were buried here!“, zetert die zweite Frau und verlangt pietätvolles Verhalten auf dem Friedhof.
Die Jungs nehmen sie überhaupt nicht zur Kenntnis. Sie fühlen sich nicht angesprochen, schließlich sind sie sich keiner Schuld bewusst und verstehen außerdem nur Bahnhof. Bis wir nahe genug heran gekommen sind, um uns vermittelnd einzuschalten, haben die Damen schon kapituliert und stürmen kopfschüttelnd an uns vorbei.
Schade eigentlich, denn einen Moment später lese ich auf der Hinweistafel, dass sich die Überreste der hier Begrabenen heute alle in verschiedenen Museen befinden. Darauf hätte ich die beiden ja gerne mal angesprochen – von wegen Friedhof und Pietät und so.
„Kraftort“ für Sinnsucher
Im Innern der uralten Grabkammern stelle ich fest, dass die Damen entweder häufiger hier herkommen oder gleichgesinnte Freunde haben. Zwischen den Felsen stecken überall Blumensträuße und andere Naturmaterialien, die wohl als Opfergaben deponiert wurden. In einer Nische am Ende des Ganges in der größten Kammer brennt ein Teelicht (was sich übrigens der Archäologenverband explizit verbittet – wie allerdings auch das Klettern auf prähistorische Stätten, wie ich viel später gelesen habe).
Faszinierend.
Wir haben das bereits an zahlreichen prähistorischen Orten in England, Schottland und Irland gesehen, und es scheint immer üblicher zu werden. Je mehr die Menschen den Bezug zu traditionellen Religionsvorstellungen und zur Kirche verlieren, desto häufiger scheint es vorzukommen, dass jemand Zuflucht in vermeintlich ursprünglicheren Glaubensformen sucht. Das Bedürfnis nach einem heiligen Ort ist wohl da, und wenn die Kirche – aus welchen Gründen auch immer – dieses nicht befriedigt, dient der vorzeitliche Ritualplatz als Ersatz.
Ich möchte diese Form der Sinnsuche nicht ins Lächerliche ziehen. Trotzdem hält sich mein Mitleid mit den beiden Frauen und ihresgleichen in Grenzen. Es gibt keinerlei Anspruch auf eine „alte Religion unserer Vorfahren“, denn wie die ausgesehen hat, kann kein Mensch sagen. Natürlich spricht nichts dagegen, die eigene Fantasie spielen zu lassen und sich selbst eine neue Religion zusammenzuspinnen, gern auch in Anlehnung an das, was in prähistorischer Zeit vermutlich eine Rolle spielte.
Wenn ich dazu aber einen Ort als mein Heiligtum auswähle, der heutzutage vornehmlich als Sehenswürdigkeit genutzt wird, bin ich – meiner Meinung nach – selber Schuld und darf mich nicht beschweren, wenn mir für meine erfundenen Rituale die nötige Ruhe fehlt.
Und das Kind macht mit
Inzwischen ist eine weitere Familie eingetroffen, die Silas zum Freeclimbing animiert. Ich bin mir unsicher, ob das dann nicht doch ein bisschen zu weit geht in meinem persönlichen Anstandsempfinden. Andererseits bin ich durchaus beeindruckt von seinen Kletterfähigkeiten.
Janis hat sich unterdessen offenbar selbst zum New-Age-Druiden befördert und zelebriert oben auf den Glasbausteinen ein Ritual, bei dem er Weizenkörner vom angrenzenden Feld meditativ in Kreisen verreibt.
„Was machst du da?“ frage ich irritiert.
„Das ist heiliges Mehl“, antwortet er in getragenem Ernst.
Oje – es ist ansteckend…
Die prähistorischen Sehenswürdigkeiten rund um Avebury (die als „associated sites“ bezeichnet werden), sind allesamt eintrittsfrei zugänglich und weiträumig ausgeschildert. Am Silbury Hill und am West Kennet Longbarrow gibt es ganz in der Nähe kostenlose Parkplätze (zu den anderen beiden Orten kann ich leider nichts sagen).
Dieser Beitrag basiert auf den Eintragungen meines Reisetagebuchs vom 30. August 2013. Mehr England-Reiseberichte aus jenem Familienurlaub inklusive Karte gibt es in unserem England-Inhaltsverzeichnis.
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